Insgesamt kann diese heterogene Postkarten-Stichprobe keine Repräsentativität beanspruchen, mit der vorgenommenen quantitativen und qualitativen Analyse sollte aber der Versuch unternommen werden, Tendenzen und Entwicklungen der Repräsentation zu skizzieren, die Wirkungsmöglichkeiten offenzulegen und auf diese Weise die textlich basierte, kollektive Gebrauchsanalyse durch eine visuelle zu ergänzen. Eine Text-Bild-relationale Untersuchung schliesslich wäre konzeptionell als Elemente der individuellen Gebrauchsanalyse zu werten und deshalb in Kapitel 5der vorliegenden Arbeit zu verorten. Aus forschungspraktischen und -theoretischen Gründen wurde darauf verzichtet.[216] Die vorgenommene Analyse war dreischrittig: Der erste Schritt fokussierte auf die Frequenz der verschiedenen Kartenmotive. Konzentrierte sich anschliessend der zweite auf die chronologische Analyse der Motivverwendung, wurden im dritten exemplarisch typische Postkartenmotive nach qualitativen Gesichtspunkten untersucht.
2.2.3 Andere touristische Fotografien
Da Bilder in touristischen Medien genauso gewichtig sind wie die dazu gehörigen Texte, werden sie hier als separate Bildgattung aufgeführt. Die Materialgrundlage deckte sich mit derjenigen, wie sie für die touristischen Texte beschrieben ist.[217] Explizit erwähnt seien lediglich die sieben Bilder, die auf der Internetsite von Schweiz Tourismus unter den Stichworten «Rütli – Rütliwiese» sowie «Weg der Schweiz: Schweizer Wilhelm-Tell-Route» zu finden sind.[218] Die Untersuchung auch dieser Abbildungen erfolgte in quantitativer und qualitativer Hinsicht, wobei zwei besonders häufige Fotografien – parallel zu den den häufigsten Postkarten-Motiven – ausführlicher interpretiert wurden.
2.2.4 Wertträger und Poststempel
Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel sind geschichtskulturelle Wert- und Bedeutungsträger, die durch ihre alltägliche Präsenz eine identitätsstiftende Tiefenwirkung zu entfalten vermögen.[219] Wegen dieser impliziten Bedeutsamkeit und des gleichzeitig kulturgeschichtlichen Abbildcharakters gehörten auch diese Wertträger resp. Medien[220] zum Materialkorpus und dienten zur Beantwortung der gebrauchsanalytischen Fragen, wann, wie oft und vor allem wie das Rütli als Ort oder der Gründungsschwur als damit verbundener Mythos dargestellt wurden.
Liegen zahlreiche philatelistische Arbeiten und Monografien zur Geschichte der Briefmarke vor, waren diese Postwertzeichen bisher nur selten Gegenstand geschichtskultureller und kommunikationswissenschaftlicher Forschung.[221] Für den Zeitraum von 1880 bis 1945 hat Alexis Schwarzenbach eine kulturwissenschaftliche Studie vorgelegt, in welcher er – unter anderem im Spiegel der Briefmarken – die nationalen Identitätskonstruktionen von Belgien und der Schweiz vergleicht. Quellengrundlage bilden die mehr als 400 Briefmarken, die in diesem Zeitraum erschienen sind.[222] Für die Periode nach 1945 wurde ein philatelistisch einschlägiges Verzeichnis konsultiert.[223]
Stellen die obigen Bildgattungen Materialien dar, um die kollektive Repräsentation des Rütlis zu erforschen, zeigen die private Fotografien, welche die Besucherinnen und Besucher auf dem Gelände herstellen, den individuellen Umgang mit dem Denkmal. Mit diesem Fokus reiht sich diese Teilstudie in eine längere Forschungstradition ein, die unter anderem davon ausgeht, dass die private Reisefotografie auf der einen Seite Projektionen individueller Vorstellungen und Bedürfnisse ausdrückt, auf der anderen aber auch verinnerlichte, kollektive Normen und damit die soziale Determiniertheit des privaten Bilderkanons.[224] Ähnliche Fragen, wie sie für die nichtteilnehmende Beobachtung formuliert sind, stellten sich auch für diese Bildgattung: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?[225]
Dank online gestellter, individuell produzierter fotografischer Serien ist es inzwischen möglich, das an Ort virtuell hergestellte Bildmaterial systematisch zu erschliessen und auszuwerten.[226] Als Datenquelle diente Flickr, die weltweit wohl bekannteste und umfangreichste Online-Plattform für Fotografie.[227] Einbezogen wurden alle im Jahr 2015 auf Flickr auffindbaren Fotoserien, die einen privaten Rütli-Besuch – individuell oder in kleiner Gruppe – dokumentierten.[228] Denn zentrales Merkmal des beabsichtigten methodischen Zugriffs war der serielle Charakter des Bildmaterials. Gemeint sind damit in erster Linie nicht Einzelaufnahmen, sondern vielmehr zusammenhängende Bildserien, eigentliche Reportagen oder Fotoalben.[229] Die erzielte Stichprobe umfasste 40 Fotoserien.[230] Sie dokumentierten einerseits den eigentlichen Besuch des Geländes – diese Serien wurden vollständig erfasst. Andererseits berücksichtigte die Stichprobe auch Serien, deren Bilder das Rütli lediglich von aussen, vom Schiff aus oder von Seelisberg herab zeigten. Die Fotoproduzenten waren also nicht auf dem Gelände, sondern fotografierten das Denkmal aus Distanz. Von diesen recht häufigen Alben sind lediglich einige typische Beispiele in die erhobene Stichprobe eingegangen. Schliesslich erlaubte ein archivalischer Zufallsfund – ein in Form einer Negativserie dokumentierte Privatbesuch aus dem Jahr 1989 – einen exemplarischen, kontrastiven Vergleich, der die Alben- und Einzelbild-Analyse ergänzte.[231]
2.2.6 Rütli-Führer der SGG
Die SGG hat im 20. Jahrhundert insgesamt vier Rütli-Broschüren herausgegeben, deren Autoren jeweils Mitglieder der Rütlikommission waren. Die erste Broschüre erschien anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Rütlikaufs.[232] Die von Melchior Schürmann, Aktuar der Rütlikommission, verfasste Schrift «Das Rütli als Nationaleigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft» wurde in einer Auflage von 26 000 Exemplaren produziert. Zum 75-Jahr-Jubiläum verfasste Martin Gamma 1935 eine neue Fassung: «Das Rütli: 75 Jahre Nationaleigentum».[233] Sie erschien sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Die Rütlikommission setzte sich aktiv für den Absatz der neuen Broschüre in den Primar- und Sekundarschulen ein, konnte aber lediglich 18 000 Exemplare in deutscher Sprache und 2 400 in französischer Sprache absetzen – sehr wenig im Vergleich zu den rund 600 000 Schülerinnen und Schülern, welche die Kommission recherchiert hatte.[234] 1954 wiederum löste die Publikation «Rütli» von J. Hess Gammas Broschüre ab, auch Hess war Mitglied der Rütlikommission und zugleich Obwaldner Erziehungsdirektor.[235] Dieses Mal scheint die Absatzaktion deutlich erfolgreicher gewesen zu sein, da fast alle Kantone eine Bestellung für ihre Schulen getätigt hatten und in einem ersten Schritt eine Auflage von 170 000 deutschsprachigen Exemplaren gedruckt wurde; die vorgesehenen Auflagen in Französisch und Italienisch hingegen sind nicht nachweisbar. 1986 schliesslich legte Josef Wiget, Staatsarchivar und Kommissionsmitglied, eine Neufassung der Broschüre vor, die als Nachdruck noch heute in situ verfügbar ist. Die Analyse dieser vier Broschüren bezieht sich auf deren Titelseiten, eine Beschränkung, die weiter unten kommentiert wird.
Bereits kurz nach dem Jubiläumsjahr 1991 fielen die Besuchszahlen wieder auf das vorherige Niveau zurück, was die SGG dazu führte, über eine Belebung des Denkmals nachzudenken.[236] Der angefragte Verkehrsdirektor der Stadt Luzern legte drei Ideen vor. Erstens sollte das Rütli nicht verändert werden, aber mit zusätzlichen Fahnen festlicher gestaltet werden; zweitens riet er, die «geschichtlichen Ereignisse» mithilfe moderner Kommunikationsmittel zu präsentieren und, drittens, das Restaurationsangebot kreativ weiterzuentwickeln. Besonders der zweite Punkt schien der Rütlikommission eingeleuchtet zu haben, denn zwei Jahre später beschloss sie, ein Informationskonzept zu entwickeln.[237] Josef Wiget erhielt den Auftrag, im unteren Gaden eine kleine Ausstellung zu konzipieren. Das daraus entstandene «Rütlimemo», Herzstück der 1998 abgeschlossenen Erneuerung der Infrastruktur des Rütlis für fast CHF 3 Millionen, zeigte auf ca. 40 m2 nicht nur den aktuellen Forschungsstand zur Entstehung der Eidgenossenschaft, sondern zeichnete auch Entstehung und Wirkung des Rütlimythos nach. 2008, zu Beginn der letzten, umfassenden Sanierung des ganzen Geländes, liess der Bund die Ausstellungsmaterialien jedoch entfernen und im ersten Stock des oberen Gadens einen neuen Ausstellungs- und Präsentationsraum einrichten. Damit im Zusammenhang stand die Idee der SGG, ein neues Bespielungskonzept erarbeiten zu lassen.[238] Die eingereichten Vorschläge sahen neben einer neuen Internetseite vor allem auch interaktive Stationen auf dem Gelände vor, welche die Besucherinnen und Besucher auffordern sollten, sich aktiv mit dem Ort, dem Mythos und seinem Gebrauch auseinanderzusetzen. Letztlich umgesetzt wurde nur die Internetsite, die 2009 online geschaltet werden konnte und einige Jahre später vom derzeitigen Internetauftritt abgelöst worden ist.[239]
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