Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring erbrachte in einem ersten Schritt induktiv, aus den Rütli-Einträgen der Führer gewonnene Kategorien.[199] Diese wurden nach Hettlings Dimensionen von Denkmal, Mythos und Fest geordnet. Im zweiten Schritt wurde die diachrone Entwicklung der drei genannten Dimensionen summarisch untersucht.
Diese diachrone Reiseführer-Analyse ergänzte die Auswertung weiterer, aktueller touristischer Medien. Die Materialgrundlage dazu bildeten Prospekte, die im Jahr 2013 in den Tourismusbüros in Brunnen und Altdorf, auf den Schiffen der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees und den Stationen der Treib-Seelisberg-Bahn erhältlich waren. Aufgrund der sehr ähnlich gehaltenen Präsentationen auf den entsprechenden Internetsites konzentrierte sich die Analyse online verfügbarer Informationen – exemplarisch für die touristische Darstellung im Internet – auf diejenige der nationalen Tourismus-Agentur.[200] Systematisch nicht ganz korrekt wird hier der Wikipedia-Eintrag zum Rütli zu dieser textlichen Kategorie gezählt. Diese Zuordnung liesse sich allenfalls dadurch rechtfertigen, dass Wikipedia-Einträge im Sinn einer Reisevorbereitung konsultiert werden. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring[201] erstreckte sich auch auf diese Quellen, ergänzt durch eine Bildanalyse, die im nächsten Abschnitt beschrieben wird.
2.1.6 Bezeichnungen von Transportmitteln, Strassen und Plätzen
Die geschichtskulturelle Dynamik des Gedenkens lässt sich auch in dessen Präsenz in Form von Bezeichnungen im öffentlichen Raum ablesen.[202] Dabei dienen beispielsweise Strassennamen als Lesezeichen, die jedoch aufgrund ihrer Kürze lediglich auf das kollektive Gedächtnis verweisen, welches sowohl Referenzereignis als auch dessen symbolische Deutung speichert. Für Deutschland liegen Arbeiten vor, die aus mentalitäts- und politikgeschichtlicher Sicht die in den Bezeichnungen enthaltenen Erinnerungslandschaften aufzeigen.[203]
Diese geschichtskulturellen Lesezeichen unterliegen indessen der Entscheidungsbefugnis politischer Machträger. Am Beispiel Zürichs seien in aller Kürze die für Strassenbezeichnungen zuständigen Instanzen und die erkennbaren Tendenzen bei der Namensvergabe skizziert.[204] Ein seit 1875 und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Polizeivorstand und einer Fachkommission zusammengesetztes Gremium machte entweder selbst Namensvorschläge für Strassen oder nahm Anregungen von privater Seite auf. In dieser Fachkommission sassen neben dem Stadtbaumeister führende Geschichts- und Kunstgeschichtsprofessoren. Leitlinien für mögliche Bezeichnungen konnten besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts räumlicher resp. ortsspezifischer Bezug oder thematisch definierte Benennungsmuster für ganze Quartiere sein. Um die Jahrhundertwende, bedingt durch die grosse Eingemeindung von 1893, kamen vermehrt historische Persönlichkeiten, Helden der Nationalgeschichte und Personen von lokaler Bedeutung zum Zug. Seit 1907 schliesslich amtet die aus leitenden Beamten verschiedener Ämter zusammengesetzte Strassenbennungskommission, welche die Strassennamen nach vergleichbaren Kriterien vergibt.
2.2 Interpretation von Bildern
2.2.1 Bilder als Untersuchungsgegenstände
Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext kommt dem Visuellen heute eine zwar viel grössere, gleichzeitig aber auch ambivalentere Bedeutung zu als zuvor: Realität bedarf der Abbildung, ja der objektivierbaren Abbildbarkeit, umgekehrt stellen die Manipulierbarkeit und die semantische Vieldeutigkeit ihre Objektivität in Frage.[205] So gelten Fotografien im medialen Alltag oft noch heute als realitätsgetreue Abbildungen der Wirklichkeit. Diese positivistische Sicht entstand mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert, als man davon ausging, dass eine Kamera der Natur ermöglichte, «sich selbst abzubilden».[206] Diese Bildgläubigkeit wich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bildskepsis: Einerseits ist die Fotografie als Existenzbeweis der Realität des Abgebildeten sowie des vergangenen Akts des Fotografierens durch die technischen (Manipulations-) Möglichkeiten der digitalen Fotografie grundsätzlich in Frage gestellt, andererseits interessieren nunmehr – über die Abbildhaftigkeit hinaus – die Produktions- und Distributionsinstanzen, die Wahrnehmungsmuster, die Deutungs- und Wirkungsweisen, die soziale und politische Wirklichkeiten zu prägen und sogar zu schaffen vermögen. Fotografien sind konstruierte Produkte geworden, konstruiert durch Erzeuger, Gegenstand und Rezipient und deren machtdurchdrungenen, gesellschaftlichen Kontext.
Seit den 1990er-Jahren entwickelte sich die Visualität zu einem Paradigma, das seinen Ausdruck im «pictorial turn» (Mitchell) resp. «iconic turn» (Boehm) fand.[207] Demnach kommt dem Bildlichen nicht nur bei Prozessen des Denkens und des Wissenserwerbs eine wesentliche Rolle zu, sondern auch bei deren Erforschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie in der Kulturanthropologie. Genauso wie sich Letztere auf vermeintlich nebensächliche, alltägliche Bilder richtet, etwa in Form von Postkarten, Werbung oder Comics, fokussiert sich die geschichtsdidaktische Forschung auf geschichtskulturelle Fragestellungen, die eine grosse Palette von Bildgattungen miteinschliessen.[208]
Der folgende Überblick verortet die im vorliegenden Projekt analysierten Bildgattungen und -bestände als materielle Grundlage gesamtkonzeptionell in der Gegenstands- und Gebrauchsanalyse. Anschliessend werden die dabei angewandten Methoden erläutert und begründet.
Die Beforschung des visuellen Mediums der Bildpostkarte hat sich in den letzten Jahren in der Geschichts- und Kulturwissenschaft intensiviert. Der Fokus liegt dabei auf mediengeschichtlichen, kunst- und sozialgeschichtlichen Studien.[209] Untersuchungen zur Abbildungsgeschichte einzelner Objekte sind ebenso selten wie Analysen des touristischen Blicks: Die textorientierte Geschichtswissenschaft hat die dazu vorhandenen Quellenbestände der privaten Urlaubsfotografie und der Tourismusprospekte bisher nur wenig zur Kenntnis genommen.[210] In dieser konzeptionell-methodischen Lücke verortet sich das vorliegende, explorative Teilprojekt zu den Rütlipostkarten.
Nach der Erfindung der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte erst die drucktechnische Weiterentwicklung in den 1880er-Jahren, Fotografien massenhaft zu reproduzieren – in bebilderten Tageszeitungen, aber auch in Form der neuartigen Ansichtspostkarte. Die Entwicklung von der literarischen hin zur ikonografischen Massenkultur war damit angestossen.[211] Nicht nur der geringe Preis, sondern auch das Format eines praktischen Kommunikationsmittels führten dazu, dass die – anfänglich noch unbebilderte – Postkarte zu einem äusserst präsenten alltags- und geschichtskulturellen Bildmedium wurde, das man nicht nur verschickte, sondern auch sammelte.[212] Aus diesen Gründen stellen sie eine wertvolle Quelle dar, wenn es darum geht, reproduzierte Bilder und Vorstellungen von Orten und Objekten zu untersuchen.
Postkartensammlungen mit Rütlikarten sind zahlreich. Für die Untersuchung wurden insgesamt vier Datenbestände berücksichtigt, zwei öffentliche und zwei private. Sowohl das Staatsarchiv Uri als auch die Schweizerische Nationalbibliothek besitzen umfangreiche Bestände, die zum grössten Teil aus nicht gelaufenen, also nicht verschickten Postkarten bestehen.[213] Im Rahmen des Experteninterviews mit dem langjährigen Rütliführer Fredy Zwyssig (Seelisberg) entstand auch eine rasche und summarische Aufnahme seiner Postkartenalben.[214] Die vom Verfasser der Studie angelegte private Sammlung von Rütli-Postkarten stammt aus mehreren Quellen: aus dem Erwerb aller aktuell im Rütlihaus und in Brunnen verfügbaren Postkarten, aus archivierten Karten aus den Beständen des führenden Postkartenherstellers Photoglob[215] sowie aus Internetrecherchen vor allem auf kommerziellen Auktionsplattformen. Hauptkriterium für diese private Sammlung war die Datierbarkeit der Karten, sei es, dass sie einen Poststempel resp. ein handschriftliches Datum trugen, sei es, dass der Hersteller Photoglob das Jahr des Erstdrucks vermitteln konnte. Für diese Ersteditionen – nicht jedoch für die Nachdrucke – ist überdies die Auflagengrösse bekannt.
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