1.9 Forschungsstand IV: Das Rütli als Besuchsziel und als Ort von Gedenkfeiern
Auf den individuellen und kollektiven Gebrauch des Denkmals Rütli zielt eine der zentralen Fragestellungen des Projekts. Dazu liegen nämlich bisher nur eher allgemein gehaltene Aussagen vor. Kreis widmet dem alltäglichen, individuellen Gebrauch des Rütlis sowie der Bewilligungspraxis der SGG für Gruppenbesuche ein Kapitel und stellt chronologisch die Nutzungen des Orts in Form von Feier- und Festanlässen vor.[150] Ebenso fächert er eine breite geschichtskulturelle Palette von Rütli-Bildern auf.[151] Die vorangegangene Literatur enthält in der Regel nur punktuelle Hinweise zum individuellen Besuch, unter anderem auch zu der offenbar sehr hohen Zahl von Besuchern.[152]
Der kollektive Besuch erweist sich gerade beim Rütli als besonders intensiv. Um diese zahlreichen Gedenkfeiern und -jubiläen zu kontextualisieren, sei deshalb in einem ersten Schritt ein chronologischer Blick auf schweizerische Gedenkfeiern geworfen, denen beim Aufbau eines modernen Nationalbewusstseins eine wichtige Rolle zukam.[153] Der zweite Schritt skizziert die Entstehungsumstände der rütlispezifischen Feiern – eine detailliertere Analyse dieser Umstände und der weiteren Entwicklung ist Gegenstand des Kapitels 4.3.
Im Fall der Schweiz gehen den Gedenkfeiern die alteidgenössischen Schlachtjahrzeiten voran.[154] Diese kirchlichen Gedenktage für die in Schlachten gefallenen Vorfahren setzten im Spätmittelalter ein und wurden mit lokaler Ausstrahlung teilweise bis in das 20. Jahrhundert begangen. Im Gegensatz zu den Schlachtenjahrzeiten bildeten die Gedenkfeiern von Anfang an nationale Anlässe, deren Teilnehmer den siegreichen Taten der Vorfahren gedachten, die von staatlicher Seite verantwortet wurden und formal dennoch sakral ausgestaltet waren. Diese Feiern kamen vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, befördert durch die jungen liberalen Bewegungen, welche darauf abzielten, das nationale Bewusstsein zu fördern. Gleichzeitig können diese jährlich und auch «dezenar» durchgeführten Feiern erstanden werden als stabilisierendes Gegengewicht zum raschen und verunsichernden gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts. So setzten beispielsweise die Zentenarfeiern der Schlacht am Morgarten 1815 ein, jene in Laupen 1839, in St. Jakob bei Basel 1844, wo bereits seit 1822 ein jährliches St.-Jakobs-Fest stattfand. 1851 kam der neue Typus der Bundesbeitrittsfeier hinzu, als der Kanton Zürich das 500-Jahr-Jubiläum beging und so eine Tradition begründete, die schliesslich in die erste grosse Bundesfeier von 1891 mündete. Formal erweiterten die Gedenkfeiern die sakralen Elemente der traditionellen Schlachtjahrzeiten um weitere, zivile Komponenten: Festspiele, die das vergangene Geschehen theatralisierten, Festschriften, die das Geschehen zurückblickend schriftlich fassten, Denkmäler, die das erzählte Geschehen räumlich verorteten und auch Festschiessen, welche die partizipative Wiederherstellung von Vergangenem zeitgemäss und stark formalisiert ermöglichten. Auch die Schweiz geriet so in die «grosse Euphorie des Festwesens»[155] der bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein.[156] Am Ende des Jahrhunderts beklagten Zeitgenossen die rasant angewachsene Zahl solcher patriotischen und kulturellen Feiern – die SGG setzte gar einen Ausschuss ein mit dem Auftrag, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um diesem Übel entgegenzutreten.[157]
Auf dem Rütli besteht eine besonders reichhaltige, aber relativ spät einsetzende Tradition von Gedenkfeiern. Dazu zählen nicht nur grosse Zentenar-Jubiläen, sondern auch die jährlich wiederkehrenden Feiern, die sich alle auf das mythische Gründungsdatum von 1291 beziehen. Überdies sind auch für das zweite Referenzereignis des Rütlis, den Rütli-Rapport von 1940, Gedenkfeiern entstanden. Die mit dem Gründungsmythos verbundenen Jubiläumsfeiern fanden jeweils mit grossem Aufwand statt. Die erste, die vor allem auch terminlich explizit auf die Gründung Bezug nahm, war jene von 1808, die an mehreren Orten begangen wurde, jedoch nicht auf dem Rütli.[158] Die Feier zum 100. Geburtstag von Schiller, der den Mythos in eine poetische Form gegossen habe, so die Einschätzung der Initiatoren der Veranstaltung, steht deshalb am Anfang der Jubiläumsreihe.[159] Denn die Veranstalter wollten mit dem Anlass zwar Schiller als Schriftsteller würdigen, aber vor allem auch des «552. Geburstags des Schweizerbundes» und des historischen und vor allem symbolischen Gehalts des Rütlis gedenken. Das nächste resp. erste explizite Gründungsjubiläum fand schliesslich 1891 statt, als 1291 zum offizielle Datum der Bundesgründung bestimmt wurde.[160] Dass diese Feier überhaupt stattfinden konnte, war keineswegs selbstverständlich. Nach dem Sonderbundskrieg 1847 war die liberale Bundesstaatsgründung des darauffolgenden Jahres nicht «darstellbar», da dies einer Provokation der unterlegenen, katholischen Kantone gleichgekommen wäre.[161] Trotzdem hielten die Innerschweizer Kantone am traditionellen Gründungjahr 1307 fest und organisierten deshalb 1907 eine 600-Jahr-Feier. Die wohl grösste Feier fand mitten im Zweiten Weltkrieg statt und ist im Kontext der «Geistigen Landesverteidigung» zu sehen. Die jüngste Zentenarfeier schliesslich beging die Schweiz 1991. Militärische Kreise organisierten erstmals 1960 einen grossen Anlass, um an den Rütli-Rapport zu erinnern. Damit initiierten sie eine Tradition, die bis in die jüngste Zeit fortdauert und gleichzeitig eine auffällige Unregelmässigkeit bei Rhythmus und Terminierung aufweist.
Neben den Jubiläen zählen auch jährlich wiederkehrende Feste zu den Gedenkfeiern.[162] Die Idee, auf dem Rütli regelmässig eine offizielle Feier einzurichten, um an das Referenzereignis von 1291 oder 1307 zu erinnern, wurde erstmals Ende des 18. Jahrhunderts formuliert, ohne dass sie umgesetzt worden wäre.[163] Auch die grosse Jubiläumsfeier von 1891 hätte dazu führen können, am Urnersee dem Schwur regelmässig zu gedenken. Aber erst der Druck von Auslandschweizerkolonien, die einen mit dem deutschen oder französischen vergleichbaren Nationalfeiertag wollten, führte 1899 dazu, dass der Bundesrat den Kantonen ein allgemeines Glockenläuten zum Gedenken an den 1. August empfahl, und setzte damit den Anfangspunkt des 1. Augusts als Feiertag.[164] Zwei Gründe dürften danach zur Etablierung dieses Festes beigetragen haben. Erstens erschien es, aus bürgerlicher Sicht, als einigendes Element über religiöse, kulturelle und politische Grenzen hinweg – in Abgrenzung zum 1. Mai, der klassenspezifisch definiert war.[165] Zweitens eigneten sich die Feiern als Attraktion für die Touristen – weshalb in den Bergen traditionelle Höhenfeuer allmählich auf diesen Tag gelegt wurden.
Auf dem Rütli signalisierte der Pächter Ulrich im Jahr 1900 den nunmehr offiziellen Nationalfeiertag, indem er am Rütlihaus die Schweizerflagge hisste.[166] Frühste Belege für eine zumindest halboffizielle Bundesfeier auf dem Rütli stammen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Offiziersgesellschaft erste Feiern organisierte, bestimmt für Soldaten und in einfachem Rahmen gehalten.[167] Nach Kriegsende scheint diese Tradition in militärischen Kreisen nicht ganz erloschen zu sein, berichteten doch die Schaffhauser Nachrichten von einer Infanterie-Rekrutenschule in Luzern, die mit einer schlichten Feier am 1. August 1924 auf dem Rütli der Gründung des ersten Schweizerbundes gedenken wollte.[168] Nach der Anzahl der Einträge in den Gästebüchern des Rütlihauses zu urteilen – in den Zwischenkriegsjahren verzeichnen die Bücher am 1. August wenige bis sogar gar keine Einträge – fanden tatsächlich keine grösseren, weder offizielle noch inoffizielle Feiern statt. Diese Beobachtung wird durch die Ausnahme bestätigt, die für 1928 dokumentiert ist, als nämlich eine Musikformation von Auslandschweizern, die aus San Francisco angereist war, auf der Wiese aufspielte.[169] Eine regelmässige Feier scheint also unrealisiert geblieben zu sein, und dies, obwohl gemäss dem Rütlipächter der Wunsch danach vielfach artikuliert worden war.[170] Erst 1937 führte schliesslich der konservative Schweizerische Vaterländische Verband erstmals eine Bundesfeier auf der Rütliwiese durch, eine einsetzende Tradition, welche die SGG zehn Jahre später übernahm und weiterführte.
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