Beziehung und Fürsorge statt Veränderung
Doch machen die schlimmen Folgen fehlender Fürsorglichkeit deutlich, dass manche früh und extrem deprivierten Kinder möglicherweise nicht mehr ein vollständiges, sondern nur noch ein begrenzte Repertoire sozialer Kompetenzen nach innen und außen entwickeln können. Ihre neurologische Ausstattung, die Ausbildung und Vernetzung besonders präfrontaler Strukturen bleiben begrenzt. Philippson (2012) weist vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Arbeit mit vernachlässigten Kindern darauf hin, dass solche Kinder vor allem eine fürsorgende Beziehung benötigen, um erstmals Beziehungsfähigkeit und Erfahrungen von Beziehung zum Therapeuten und zu anderen zu entwickeln. Solche Kinder erleben diese Beziehungserfahrungen auf der Grundlage ihrer deprivierten, andersartigen neurologischen Struktur zunächst als emotional falsch, unnatürlich und unnütz. Philippson (2012) weist darauf hin, dass die paradoxe Theorie der Veränderung bei solchen zutiefst beziehungsgestörten Kindern einer Modifikation bedarf, da die paradoxe Theorie der Veränderung von einer funktionierenden neurologischen Fähigkeit ausgeht, bei der auf der Grundlage einer flexiblen organismischen Selbstregulation neue Wahrnehmungen und Beziehungen zur Umwelt aufgenommen werden können, der Klient also in der Lage ist, sich anders zu verhalten. (vgl. ebd. 2012)
Bereits Wolfgang Köhler postulierte einen physiologischen Mechanismus, der Wahrgenommenes gleichzeitig in eigene neuronale Muster übersetzt bzw. vermittelt. Durch die Entdeckung der Spiegelneurone konnte diese gestaltpsychologische Annahme bestätigt werden.
Spiegelneurone sind Gehirnzellen, die bei beobachteten Tätigkeiten, Handlungen, Ereignissen, Mimiken, aktiv werden. Sie aktivieren gleichzeitig die entsprechenden eigenen motorischen Areale, sodass eine genaue körperliche Simulation des Gesehenen, Gehörten etc. im Körper abgespielt wird. Auf der Grundlage dieser Kopie des Zustandes des Anderen ist ein genaues Einfühlen möglich. Dies steht in Widerspruch zu einer bestimmten Akzentuierung der Gestalttherapie des späten Fritz Perls. Philippson (2012) führt aus, dass die besonders durch Fritz Perls betonte gestalttherapeutische Position, »ich kann nichts über dich wissen. Ich kann nur raten und projizieren. Nur du kannst über dich wissen«, ein Verbot von Interpretation darstellt, dass aber die neuropsychologische Forschung Belege bringt, dass wir mittels der Spiegelneurone doch einiges über den Anderen wissen können. Philippson weist des Weiteren darauf hin, dass es aufgrund der starken Bestimmung eines menschlichen Wesens durch das Feld, in dem er sich befindet, eigentlich erstaunlich ist, dass es überhaupt zu einem Erleben von Individualität kommt, wo ein Mensch sagen kann, »ich will dieses und nicht jenes« oder »ich glaube dieses und nicht jenes«. Dies sind nach Philippson Momente, in denen das Individuum definiert und bestimmt wird. Philippson zitiert Lewin mit »… das Selbst wird als Region innerhalb des ganzen Feldes erfahren.« Ernst Cassirer, ein wichtiger philosophischer Lehrer Lewins, meinte in diesem Zusammenhang, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass wir überhaupt voneinander unterscheidbare Einzelheiten wahrnehmen können:
»Was uns im Gebiet des Bewusstseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals Einzelbestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich Kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lässt. Die Frage kann hier niemals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen.« (Cassirer 1954, S. 445, zit. nach Philippson 2012).
Ordnungsstrukturen und Emergenz
Philippson (2012 S. 87) beschreibt (unter Rückgriff auf Kauff man 1995 und Prigogine & Stengers 1984 zit. nach Philippson 2012) das Auft auchen höherer Ordnungsgrade auf der Grundlage einfacherer Ordnungsstrukturen. Die höheren Ordnungsstrukturen gehorchen den Regeln der einfacheren Ordnungsstrukturen, lassen sich aber nicht auf diese reduzieren. Dies ist eine neuere Variante des aristotelischen Grundsatzes, »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile 6«, der auch von Wertheim und Ehrenfels 7für die Gestaltpsychologie prägnant verwendet wurde. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Diskussion wird diese Thematik unter dem Begriff der selbstorganisierenden Systeme oder der Emergenz von Entwicklungsprozessen (Holodinsky 2006, zit. nach Philippson) behandelt 8. Auf die Neurologie übertragen schreibt Philippson mit Verweis auf Goldstein, dass ein bereits auf einer einfachen neuronalen Ebene zu sehr geschädigtes Gehirn auch nicht mehr seine höheren Funktionen zur Verfügung hat. Umgekehrt lässt sich aber die höhere Funktion eines Gedankens nicht auf das Funktionieren einzelner Neurone reduzieren (vgl. ebd.). Insgesamt bestätigen die aktuellen neuropsychologischen Forschungsergebnisse die zentralen Grundannahmen der Gestalttherapie in entwicklungstheoretischer Hinsicht weitgehend.
Neuropsychologische Entwicklungsprinzipien:
Als Bestätigung der Gestalttherapie gelten diese neuropsychologischen Erkenntnisse:
1. Der Mensch ist von Anbeginn an mit all seinen Sinnen auf andere Menschen bezogen.
2. Besonders für die Wahrnehmung emotionaler Qualitäten im Ausdruck anderer Menschen ist von Anbeginn eine spezialisierte neurophysiologische Grundausstattung gegeben.
3. Kontaktvollzüge verlaufen bereits bei Neugeborenen zyklisch – Aufmerksamkeitsprozesse und Wahrnehmungsverarbeitungsprozesse zeigen die Form der Kontaktkurve der Gestalttherapie.
4. Das Gehirns des menschlichen Organismus entwickelt sich im Einklang mit dem Umfeld und bildet es ab, entwickelt es aber auch mit.
5. Wenn ausreichende Strukturen differenziert und aufgebaut werden konnten, kommt es zu Emergenzprozessen, dem Auftauchen von Figuren, Gestalten auf einer nächsthöheren Entwicklungsebene.
Malcolm Parlett (2011, S. 54) fasst seine Sicht der Feldtheorie zusammen:
»The whole point of the field theory is to recognise the layered features of contexts, their complex and interrelated qualities, and how these are intimately related to individual and collective experiences.« Parlett gibt ein starkes Plädoyer für die Einnahme einer Feldperspektive ab (ebd.): »Self and field – those two central Gestalt concepts which admittedly are difficult to define, let alone measure are intertwined. We can still find ourselves, even as Gestalt specialists, being drawn into a more dualistic frame –splitting person from context, finding hard to hold both in a single frame, as unitary. We need to resist this tendency.«
Wheeler (2002c) legt ein konsequent relationales Feldmodell vor, in dem der klassische Individuumsbegriff überwunden wird. Das Individuum im klassischen Sinne wird als Körper-Ich beschrieben, die psychische Realität jedoch aus der interaktionellen Feldwirkung heraus verstanden. Das durch Lewin konzipierte und durch McConville (2001) für die Gestalttherapie mit Jugendlichen verdeutlichte feldtheoretische Entwicklungsmodell lässt sich als gut überprüfte, anschauliche und weitreichende Grundlage für Entwicklungsvorstellungen heranziehen. Kontakt = Organisation = Verbindung zwischen den einzelnen Teilen sagt McConville. Kontakt kann auch in Bezug auf die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen und Feldregionen beschrieben werden. Wenn die einzelnen Feldregionen unterschiedlich feste, starre und durchlässige Grenzen zueinander haben, wird dies ihre Kommunikation und Interaktion in hohem Maße beeinflussen. Dann ist ein Wechsel von der einen zur anderen Region u. U. abrupt, klar und deutlich oder aber fließend, unklar und schwer zu lokalisieren. Einzelne Feldregionen können in Form von Polaritäten eine klare und dynamische Aufteilung in jeweils zwei Subregionen, die sich gegenseitig stabilisieren, verstanden werden. Durch explorierendes kommunikatives Pendeln, Erleben und Kommunizieren zwischen den Regionen werden der Gesamtzusammenhang, die Gesamtintegration und die Verbindung von verschiedenen beliebigen Punkten oder Bereichen mit den anderen Bereichen besser, d.h. die Zuordenbarkeit wird deutlicher. Was genau ist dann Entwicklung in diesem Modell und zwar Kindheitsentwicklung? Man könnte sagen, Felderfahrungen sammeln, konkrete Lebenserfahrungen im Lebensraum sammeln, die dann letztlich ihren repräsentativen Niederschlag im Gehirn finden. Was differenziert sich während der Kindheit genau? Die Größe des Lebensraumes erweitert sich. Durch wechselseitige Erfahrungen werden einzelne Regionen prägnanter. Das supportive Feld ist ein Umweltfeld, in dem en miniature als Pars pro Toto die verschiedenen, vor allem unterbesetzten und unterentwickelten Regionen hilfsmitbesetzt werden. Notwendige Differenzierungen von noch undifferenzierten Regionen werden hilfsmitdifferenziert. Die Grenzen zwischen den einzelnen Regionen werden in einem supportiven Feld hilfsmitstabilisiert und die einzelnen Regionen hilfsmitverbunden bzw. hilfsabgegrenzt.
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