Der Wachstumsbegriff hier ist ein Prozess, der sich analog dem Piagetschen Assimilations-Akkomodationsprozess als Äquilibrationsprozess bezeichnen lässt und damit ein wichtiges Bindeglied zur Theorie Piagets darstellt. Eine Verbindung aus Goodman-Rank’scher Künstler-Kreativität und Friedlaenders Vorstellung vom indifferenten, kreativen Nullpunkt wird in folgendem Zitat deutlich:
»[Das Gewahrsein des Künstlers im mittleren Modus] wächst der Lösung entgegen.« (PHG 2006 S. 29)
»Und genauso ist es bei Kindern: Ihre hellwache Wahrnehmung und ihr freies scheinbar zielloses Spiel lassen die Energie spontan fließen und so zu zauberhaft en Erfindungen gelangen. In beiden Fällen wirken als Sinnesantrieb die Integration, die Bejahung des Impulses und der wache Kontakt mit neuem Umweltmaterial, aus denen wertvolle Arbeit erwächst.« (PHG 2006 S. 30)
Dieser Wachstumsbegriff basiert zum einen auf dem Lewin’schen Feldkonzept mit seinen Aufforderungscharakteren, die im Zusammentreffen mit dem entwicklungsbereiten, forschungslustigen Kind dessen Entwicklung erst antreibt. Lewin hatte dies in seinem Film »Das Kind und die Welt« (1926) verdeutlicht. Zum anderen klingt hier auch über Goodman die Rank’sche Vorstellung vom Menschen als mit Willen ausgestattete Künstler und Schöpfer des eigenen Lebens durch (Rank 1932, Müller 2006). In dem explizit »Reifung« genannten Kapitel 5 (ebd., S. 77) wird der Entwicklungsbegriff etwas deutlicher.
»Wir haben gesehen, dass das Kind, wenn wir es als integrierenden Teil eines Feldes betrachten, von dem die Erwachsenen ein anderer Teil sind, nicht als hilflos bezeichnet werden kann. Wenn nun seine Kraft und Mitteilungsfähigkeit, seine Kenntnisse und Fertigkeiten wachsen, ändern sich bestimmte Funktionen, die der frühen Ganzheit angehörten zu Funktionen in einer neuen Ganzheit: Zum Beispiel entwickelt sich, sobald das Kind besser auf eigenen Füßen stehen kann, ein bewegungslenkendes Selbst, das man als Eigen-Selbst bezeichnen könnte, so dass Pflegefunktionen aus dem früheren Ganzen nun in vieler Hinsicht zu Selbstversorgungsfunktionen werden. 1« (ebd. S. 86)
Und weiter:
»Mit dem Wachstum ändert sich das Feld von Organismus und Umwelt.« (ebd. S. 94)
Dies ist Feldtheorie und gestaltpsychologische Entwicklungsauffassung in Reinform, was auch von Lore Perls (1969) so bestätigt wird. In Kapitel 7 wird anhand der Sprache eine Entwicklungsreihe aufgestellt:
a) Präverbale Sozialbeziehung des Organismus,
b) Herausbildung einer Sprachpersönlichkeit im Organismus/Umweltfeld,
c) daran anschließende Beziehungen der Persönlichkeit zu anderen.
Dabei wird insbesondere die Aggression im positiven Sinne von »Herangehen« (ebd. S. 134) als eine Entwicklungsqualität angesehen.
»Jeder Organismus wächst in seinem Feld, indem er neue Stoffe in sich aufnimmt, sie verdaut und assimiliert, und dies erfordert ein Zerstören der ursprünglichen Form zu assimilierbaren Elementen … »(ebd. S. 133)
Und:
»Die Aggressionstriebe sind von den erotischen Trieben nicht wesensverschieden; es sind vielmehr verschiedene Wachstumsphasen, die sich in Auswählen, Zerstören und Assimilieren oder Genießen, Aufnehmen und Gleichgewichtfinden manifestieren.« (ebd. S. 144)
Eine ähnliche Formulierung wird auch im 10. Kapitel »Theorie des Selbst« verwendet: Der Organismus erhält sich nur, indem er wächst. Selbsterhaltung und Wachstum sind Pole auf einem Kontinuum, denn nur, was sich erhält, kann durch Assimilation wachsen, und nur, was immer wieder Neues assimiliert, kann sich erhalten, ohne zu degenerieren. Dies sind also die Stoffe und Energien des Wachstums: das konservative Bestreben des Organismus, zu bleiben, wie er ist, die neue Umwelt, die Zerstörung früherer Partialgleichgewichte und die Assimilation neuer Stoffe (ebd. S. 166 f.). Entwicklung kann nach Perls/ Hefferline/Goodman (PHG) in gestaltpsychologischem Sinne Goldstein’scher Prägung verstanden werden: Es finden Selbstorganisationsprozesse statt, wobei der Umschlag zu bestimmten emergierenden Organisationsstufen qualitativ erfolgt, analog dem Gestaltbildungsprozess oder dem produktiven Denken Wertheimers (1957).
2. Neuere Entwicklungsansätze in der Gestalttherapie
Die Gestalttherapie hat eine Reihe eigener entwicklungspsychologischer und kindertherapeutischer Modelle vorgelegt, besonders durch Violet Oaklander, und die Sammelbände The heart of development von Marc Conville und Gordon Wheeler, in denen eine Vielzahl von Gestalttherapeuten unterschiedliche Ansätze zur Gestalttherapie in der Kindheit (Bd. 1, 2001) und der Jugend (Bd. 2, 2002) beschrieben werden. In Deutschland wurde ein praxisorientiertes Werk von Ingeborg und Volkmar Baulig publiziert (EHP 2002). Im Handbuch für Gestalttherapie (1999) erschien ferner ein Artikel von Caroll (1999), ein an Ken Wilber orientiertes metatheoretisches Entwicklungsmodell von Fuhr (1999) sowie die Gruppentherapiearbeiten von Franck (1997 zit. nach Baulig 2002) und Rahm (1997 zit. nach Baulig 2002). Mullen (1991) verknüpft in seinem Beitrag die Gestalttherapie mit der konstruktiven Entwicklungspsychologie Piagets, Kohlbergs und Kegans. Auch Kenhofer (2012) hält die Entwicklungsannahmen Piagets als vereinbar mit der Gestalttherapie. Die Entwicklung der Kontaktfunktionen skizziert Salonia (1990) in Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Entwicklungstheorie. Der phänomenologisch genau gefasste Kontaktzyklus kann ebenfalls als ein Wachstumskonzept angesehen werden. Die Erweiterung und Verbindung dieses Kontaktzyklus auf Entwicklungsaufgaben leistet Hartmann-Kottek (2004, S. 145 f.). Hartmann-Kottek schlägt dabei neun Wachstumsphasen eines erweiterten Kontaktkreises vor (a. a. O. S. 156), die sich paradigmatisch in Entwicklungsabläufen finden lassen. Für Entwicklungen unter Kriseneinfluss wird ein Wandlungskreis vorgeschlagen, der ebenfalls neun Stadien umfasst. Diese theoretische Orientierung am Kontaktzyklus als Wachstums- und Entwicklungsmodell wird anhand klinischer Beispiele verdeutlicht. Ihre empirische Überprüfung für eine entwicklungspsychologische Theoriebildung ist für genauere Beobachtungsstudien vorgesehen. Pauls (1994) verbindet das Entwicklungsmodell von Daniel Stern mit gestalttherapeutischen Überlegungen.
2.1 Violet Oaklander: Gestaltkindertherapie
Violet Oaklander beschreibt in ihrer 1978 fertig gestellten Dissertation im Fach Psychologie eine unglaublich reiche Fülle an Methoden und Techniken, um den Ausdruck der inneren Befindlichkeit ihrer jungen Klienten zu fördern sowie ihre Transformation. Ihre Arbeit ist unterstützend, Selbstwert steigernd und beinhaltet die Aneignung abgespaltener, verschütteter oder noch nicht entwickelter Anteile. Oaklander führt aus, dass die meisten Kinder, die Hilfe brauchen, eine Beeinträchtigung der Kontaktfunktionen aufweisen (Oaklander 1993 S. 78), häufig ein schwaches Selbstgefühl zeigten.
»Kinder drängt es zum Wachstum. Ist ihre natürliche Funktionsfähigkeit gestört, so werden sie zu irgendeinem Verhalten Zuflucht nehmen, von dem sie glauben, dass es ihnen hilft zu überleben.« (Oaklander 1993, S. 79)
Ein Ziel von Oaklander ist es, »das Selbstwertgefühl eines Kindes aufzubauen, seine Kontaktfunktionen zu stärken, und ihm ein neues Gefühl für die Sinne seines Körpers zu geben.« (Oaklander S. 809) »Indem also das Kind in der Therapie seine Sinne, seinen Körper, seine Gefühle neu erlebt, gewinnt es eine gesunde Haltung zum Leben zurück.« (ebd.) Oaklander setzt gestalttherapeutische Traumarbeit (ebd. S. 185) ein sowie die Leerer-Stuhl-Technik zur Klärung innerer Konflikte in Verbindung mit den topdog / underdog Polaritäten (ebd. S. 192 f.). Sie integriert auch Methoden anderer Schulenprovenienz wie die Sandkistentechnik der Jungianerin Margaret Lowenfeld (zit. nach Oaklander 1993, S. 210 f). Ihr Buch enthält auch eine Reihe von Falldarstellungen zur Therapie bestimmter Störungsbilder wie aggressiver, hyperaktiver, introvertierter Kinder, Kinder mit traumatischen Erfahrungen oder Einzelgänger. Zusammenfassend kann man sagen, Oaklander arbeite am Ausdruck und der Ausdrucksfähigkeit sowie an der Selbstunterstützung und dem Selbstgefühl. Sie geht von einem Entwicklungsmodell aus, das auf das von Goldstein übernommene Wachstumsmodell in Perls, Hefferline und Goodman (1992) aufbaut. Oaklander und Mortola (2011, S. 78, 108) beschreiben die wesentliche Struktur therapeutischer Erfahrung für Patienten in vier Schritten. 1. Zunächst wird eine Vorstellung davon geschaffen, was geschehen soll, eine imaginative Erfahrung z.B. durch Anweisungen wie: »Stell dir einen sicheren Ort vor.« 2. Für diese imaginative Erfahrung wird anschließend ein sinnlicher Ausdruck geschaffen, z.B.: »Male, was du dir vorgestellt hast.« 3. In einem dritten Schritt wird versucht, durch eine metaphorische Überleitung und Beschreibung diese Erfahrung noch stärker subjektiv anzubinden z.B. durch den Vorschlag: »Versuche, dieser sichere Ort zu sein.« 4. Schließlich wird durch die Frage nach der Bedeutung des Erlebten eine Übertragung auf die aktuelle Lebenssituation geleistet. Nach Mortola (2011 S. 145) werden durch die Anregung mittels der Sinne offene, unabgeschlossene Gestalten in den Vordergrund gehoben und werden so einer integrierenden Verarbeitung zugänglich.
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