Nicht nur Unternehmen, auch die Wissenschaft blühte zu dieser Zeit auf. Aber das Bild der Maschine war in der Forschung fehl am Platz. Es ging um Erkenntnis, nicht um Steuerung. Die Frage, wie Gespräche beschaffen sein müssen, um zu Erkenntnis zu gelangen, beschäftigte den Philosophen Leonard Nelson, der an der Universität Göttingen unterrichtete, Zeit seines Lebens. Sein 1922 gehaltener Vortrag Die sokratische Methode4 hatte nachhaltige Wirkung. Diese Gesprächsform hat seitdem unter dem Begriff des Sokratischen Gesprächs vor allem im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst, nicht zuletzt deswegen, weil die von Nelson 1924 gegründete Philosophisch-Politische Akademie 5sich dessen Pflege annahm und der Philosoph Gustav Heckmann 6diese Gesprächsform weiterentwickelte. Ziel des Sokratischen Gesprächs ist, dass die Teilnehmer Einsichten gewinnen; es werden die eigenen Gedanken an denen anderer überprüft und gegebenenfalls modifiziert. Es wird also in Gemeinschaft gedacht, um zu Aussagen zu kommen, denen alle zustimmen können.
Im Jahre 1923 veröffentlichte der Philosoph Martin Buber seine erste Abhandlung Ich und Du , die der Frage gewidmet war, wie Menschen im Gespräch miteinander in Beziehung treten können. Die Früchte seiner bis ins Jahr 1953 reichenden Auseinandersetzung mit dieser existentiellen Frage nannte er schließlich »Das dialogische Prinzip«. 7Wie kein anderer gab Buber dem Begriff Dialog eine besondere Bedeutung:
Ich kenne dreierlei Dialog: den echten – gleichviel, geredeten oder geschwiegenen –, wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte; den technischen, der lediglich von der Notdurft der sachlichen Verständigung eingegeben ist; und den dialogisch verkleideten Monolog, in dem zwei oder mehrere im Raum zusammengekommene Menschen auf wunderlich verschlungenen Umwegen jeder mit sich selber reden.
Außerhalb der Philosophie wurden Besprechungen lange nicht thematisiert. Erst Gregory Bateson, einer der Erfinder der Kybernetik, setzte sich ab 1948 mit der Frage auseinander, wie Inhalt und Struktur eines Gesprächs miteinander verbunden sind. Im Jahre 1972 prägte er schließlich den Begriff Metalog. 8Ein Metalog, so Bateson, ist ein Gespräch über ein problematisches Thema. In diesem Gespräch sollten die Teilnehmer nicht nur das Problem diskutieren, sondern die Struktur des Gesprächs als ganzes sollte auch für eben dieses Thema relevant sein. Ähnlich wie Nelson war Bateson an der Frage interessiert, wie Ideen entstehen und in Wechselwirkung zueinander treten. Neu war indes sein Gedanke, dass die Struktur eines Gesprächs von Bedeutung ist. Struktur verstand Bateson dabei im systemtheoretischen Sinne, das heißt als Charakteristiken bzw. Muster der Interaktionen zwischen den an einem Gespräch teilnehmenden Personen, welche den Fortgang des Gesprächs bestimmen. Batesons Entdeckung, dass jedes Gespräch immer auf zwei Ebenen abläuft, nämlich auf einer inhaltlichen Ebene, also worüber gesprochen wird, und auf einer Meta-Ebene, also wie im Gespräch die Personen miteinander interagieren, ohne dies jedoch explizit in Worte zu kleiden, schuf ein neues Aufmerksamkeitsfeld.
In den 80er-Jahren schließlich erreichte die Frage der Gesprächsführung die unternehmerische Wirklichkeit. Chris Argyris, Professor für Erwachsenenbildung an der Harvard Business School, beobachtete und analysierte akribisch Besprechungen von Führungspersonen in Unternehmen. Er stellte dabei fest, dass solche Besprechungen selten zur Klärung eines Problems beitrugen. Dies brachte Argyris dazu, zwei bis dato unbekannte Phänomene von Besprechungen zu benennen: Abwehrroutinen (defensive routines) sowie professionelle Unfähigkeit (skilled incompetence). 9Unter professioneller Unfähigkeit versteht Argyris ein Verhalten in Besprechungen, das einerseits professionell ist in dem Sinne, dass die Personen authentisch, mit bester Absicht und aus Erfahrung heraus agieren. Andererseits zeigen die Personen Unfähigkeit in dem Sinne, dass sie nicht imstande sind, ein gemeinsam angestrebtes Besprechungsziel, z.B. eine gemeinsame Vision oder eine gemeinsame Strategie, zu erreichen. Abwehrroutinen wiederum entstehen, so Argyris, wenn Personen in einer Besprechung mit einem Thema konfrontiert werden, das für sie peinlich oder bedrohlich ist, sie diesem Thema ausweichen und sie dieses Ausweichen vertuschen. Ein solches Verhalten führt dazu, dass die Gründe der Peinlichkeit oder der Bedrohung nicht besprochen und deshalb nicht aus der Welt geschafft werden. Dass Abwehrroutinen und professionelle Unfähigkeit desaströse Konsequenzen haben können, zeigte Argyris am Beispiel des Challenger-Unglücks, bei dem im Januar 1986, ganze 73 Sekunden nach dem Start der Mission, die Raumfähre zerbrach. – Die tatsächliche Unfallursache war nämlich als potentielle Gefahrenquelle bereits vor dem Start bekannt gewesen und hatte zu intensiven Besprechungen darüber geführt, ob der Start verschoben werden sollte. Durch die Analyse der Gesprächsprotokolle konnte Argyris zeigen, dass die dahinter liegenden peinlichen bzw. bedrohlichen Themen in diesen Besprechungen jedoch nie erörtert worden waren, was letztlich zur tödlichen Fehleinschätzung der Situation führte.
Die Sinnhaftigkeit und Qualität von herkömmlichen Besprechungen in Organisationen wurde somit in Frage gestellt. Der Boden für David Bohms Ideen zur Propriozeption 10des gemeinsamen Denkens war bereitet: Ab 1984 entwickelte der als theoretischer Physiker bekannt gewordene Bohm seine Idee von Dialog. Wie aus seiner Biographie 11hervorgeht, schöpfte Bohm dabei aus drei Erfahrungsbereichen: Seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Quantenphysik, 12seinen Gesprächen mit Jiddu Krishnamurti 13in den 70er Jahren und seiner therapeutischen Erfahrung in einer von Patrick de Marés 14 Median Groups in den 80er Jahren. – Im Jahre 1990 beschrieb Bohm in On Dialogue15 erstmals diesen neuen Kommunikationsprozess. Für Bohm war die zentrale Frage, wie ein Gespräch beschaffen sein muss, damit die daran Beteiligten nicht nur miteinander reden, sondern gemeinsam denken, dadurch auf gemeinsame neue Gedanken kommen und sich dieses gemeinsamen Denkens bewusst werden. Wiewohl Bohm sich nie auf Buber bezog, war beiden gemeinsam, dass sie die tiefe Verbindung der Menschen durch den Dialog als Ausweg aus den sozialen, politischen und ökologischen Krisen sahen. 16Mit Bateson wiederum hatte Bohm gemein, dass auch Bohm der Struktur des Gesprächs herausragende Bedeutung beimaß. Er ging aber wesentlich weiter als Bateson, indem er die Struktur, die gemeinsames Denken ermöglicht, beschrieb.
Bohm selber sah die Bedeutung dieses Dialogprinzips im gesellschaftlichen und politischen Kontext. Aber Peter Senge, der Gründer des Center for Organizational Learning am MIT erkannte, dass diese Gesprächsform wie keine andere geeignet war, Abwehrroutinen sowie professionelle Unfähigkeit in Organisationen zu überwinden. 17
Die konzeptiven Voraussetzungen für schöpferische Besprechungen in Unternehmen, in denen die Schaffung von Wissen (Knowledge-Creation) 18im Zentrum steht, waren somit Ende des 20. Jahrhunderts gegeben.
1.2 Unser Einstieg
Anfang der 90er-Jahre wurde uns klar, dass viele Besprechungen, Sitzungen und Konferenzen, die wir in Unternehmen, in Schulen und in Forschungsinstitutionen erlebten, dysfunktional und ganz und gar nicht dem Wohle dieser Organisationen zuträglich waren. Dieses Unbehagen ließ uns über das Konzept des Dialogs stolpern – und das gleich mehrmals. Zunächst entdeckten wir Bohms Konzept im Kapitel über Team Learning 19des im deutschsprachigen Raum damals noch unbekannten Buches The Fifth Discipline . Markus machte erste Erfahrungen mit dem Dialogkonzept im Rahmen seines M.A.-Studiums am California Institute of Integral Studies. 20Christoph und Markus lernten im Juli 1994 beim 12th Annual International Symposium on Organization Transformation Linda Ellinor und Glenna Gerard 21kennen, die damals schon intensiv die Konzepte von Bohm erprobten. Im Mai 1995 flogen Hanna und Christoph nach Boston, um am viertägigen Retreat Introduction to Dialogue von Linda und Glenna teilzunehmen.
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