Viele der Mitarbeiter der Klinik hatten ebenfalls eine Körperbehinderung. Ich habe damals viele Erwachsene und Kinder mit den unterschiedlichsten Formen von Körperbehinderungen kennengelernt, ausgelöst durch Unfälle oder auch von Geburt an. Untereinander haben wir uns wenig Gedanken gemacht, wer was hat. Wir fanden uns entweder nett oder eben auch nicht. Jedes Kind bekam eine Krankenschwester zugeteilt, die hauptsächlich für dieses Kind zuständig war. Meine hieß Schwester Maria. Sie hatte wunderschöne, lange, schwarze Haare und war mein Engel. Ohne sie hätte ich mich nirgendwohin bewegt. Sie hat aus diesem Grund sogar ihren Urlaub verschoben, da ich sonst nicht auf einen von der Klinik vorgesehenen Wochenendausflug mitgefahren wäre. Dafür bin ich ihr heute noch sehr dankbar.
In der Klinik gab es eine eigene Werkstatt. Dort wurde mir meine erste „Rutschhose“ angefertigt. Sie diente und dient heute noch als Schutz für mein Becken und ist eine Mischung aus Hose und Schuhe. Es wurden auch Prothesen hergestellt, mit denen ich laufen sollte. Diese waren aber so ungelenkig und ich war so langsam damit, dass ich sie nicht mochte. Mit der Rutschhose war ich wesentlich schneller und beweglicher. Dennoch musste ich immer wieder mit den Prothesen üben und üben und üben. Ansonsten gefiel es mir jedoch sehr gut dort.
Nach einiger Zeit in dieser Klinik durfte ich dann hin und wieder an den Wochenenden nach Hause. Bevor die Rutschhose in mein Leben kam, musste ich einen Liegerollstuhl nutzen. Unsere Wohnung befand sich im Dachgeschoss, was die Sache nicht gerade leicht machte. Doch meine Eltern ermöglichten es. Als ich dann gelernt hatte, mich mit der Rutschhose zu bewegen, ging vieles, auch für meine Eltern, leichter. Ich bewege mich heute noch so, indem ich mich mit den Händen fortbewege, also quasi „auf den Händen laufe“. So wie ich es damals gelernt habe. Das schenkt mir sehr viel Bewegungsfreiheit.
Während meines Aufenthaltes in der Rehaklinik wurde auch ein Fahrrad für mich angefertigt. Mit nach Hause nehmen durfte ich es jedoch nicht, da meine Eltern zu starke Bedenken hatten, dass ich damit umfalle oder herunterfalle und mir wieder etwas passieren könnte.
Nach einigen Monaten Klinikaufenthalt durfte ich ganz nach Hause. Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass ich weiter die Grundschule besuchen konnte und nicht eine Schule für Körperbehinderte.
Meine Klassenkameraden nahmen mich neugierig wieder in ihre Gemeinschaft auf. Ziemlich schnell ließ ich immer öfter den Rollstuhl vor der Schule stehen und lief auf den Händen im Schulgebäude und auf dem Pausenhof umher. Die Pausen verbrachten wir oft mit gemeinsamen Spielen, wie Seilhüpfen, Gummitwist oder Ballspielen. Und auch hier beteiligte ich mich aktiv und ohne Rollstuhl.
Das Einzige, was mich in der Zeit gelegentlich traurig stimmte, war der Sportunterricht. Meine damalige Lehrerin erlaubte mir bei vielen Dingen nicht mitzumachen und ich rollte weinend mit meinem Rollstuhl nach Hause. Bis heute weiß ich nicht, warum sie sich dann doch entschloss, mir zu vertrauen. Ich denke, meine Eltern hatten ihre Finger im Spiel. Denn eines schönen Tages durfte ich selbst entscheiden, wobei und wie ich mitmache. Ich kletterte die Seile bis unter die Turnhallendecke hoch, übte mich am Reck und Barren, auch Bodenturnen bereitete mir eine Menge Freude. Mein liebstes Ballspiel war Völkerball. Bei diesem Spiel durfte ich auch an Turnieren teilnehmen. Fussballspielen hat mir weniger Freude bereitet – da sollte ich immer ins Tor.
Als die Grundschulzeit zu Ende ging, wechselte ich auf die Hauptschule. Eigentlich wollte ich auf die Realschule, doch meine Eltern entschieden sich dagegen, da die Hauptschule für mich, mit dem Rollstuhl, einfacher zu erreichen war.
In der fünften Klasse erlebte ich das Phänomen des „Unglücksmontags“. In diesem Jahr fiel ich an einem Montag vom Pferd und bekam keine Luft mehr, an einem anderen Montag fiel ich vom Schlitten und prellte mir mein Becken, an einem weiteren Montag rutschte ich auf einer Plastiktüte eine Eisbahn hinab, wir nannten sie auch die „Todesbahn“, drehte mich, schlug mit dem Unterkiefer auf dem Eisboden auf und biss mir dabei die Zunge durch. Sie musste genäht werden und ich konnte zwei Wochen lang keine feste Nahrung zu mir nehmen. Da auch der Unfall, bei dem mein Hund gestorben war, an einem Montag geschehen war, beschloss ich, lieber montags nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Dies hielt ich eine ganze Weile durch – doch ich hatte gute Freunde: Sie kamen in dieser Zeit zu mir nach Hause.
Der Besuch der Regelschule hat, wie ich viele Jahre später erkennen konnte, wesentlich zu meiner persönlichen Wahrnehmung von „Behinderung“ beigetragen: Weder habe ich mich selbst als „behinderten“ Menschen gesehen, noch habe ich mich so gefühlt. Behinderung entsteht für mich persönlich dann, wenn wir das, was uns (scheinbar) fehlt, als Mangel oder Hindernis, im Sinne von: „Wenn das anders wäre, dann könnte ich …“, bewerten oder gegen eine bestehende Situation, innerlich oder auch offen, kämpfen: Sei es nun ein fehlendes Körperteil, eine Krankheit, zwischenmenschliche Beziehungen, die wir als unangenehm empfinden, Verluste jeglicher Art, finanzielle Engpässe …
Durch eine negative Beurteilung einer bereits existierenden Situation behindere ich mich selbst – und oftmals auch mein Umfeld.
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