»Zuerst haben wir geglaubt«, fuhr der Nordkarl fort, »das ist dein neuer Postkasten. Sowas Extrawitziges. Bei Künstlern weiß man ja nie, was denen noch alles einfällt. Aber wie dann einer genauer geschaut hat, haben wir gesehen, was los ist. Ja, und weil du wieder einmal nicht da warst, ruf ich jetzt an. Weil sowas ist ja nicht normal. Nicht einmal bei einem Künstler, oder?«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, bestätigte Korab, ohne auf den versteckten Vorwurf einzugehen. »Und was glaubst du, Karl … hat sich da jemand einen rustikalen Scherz erlaubt?«
»Scherz war das garantiert keiner.«
»Sondern?«
»Eine Kriegserklärung.«
»Wie bitte?«
»Du hast schon richtig gehört.«
»Aber Karl«, echauffierte sich Korab, »wer bitte soll denn wem den Krieg erklären?«
»Die Sinti uns.«
Die Sinti uns echote es tief und furchtbar durch Korabs tiefer gelegenen Bewusstseinshöhlen, aus denen er gerade eben mühsam herausgekrochen war, nachdem er dort in den Erinnerungen an Doktor Gruber gestöbert hatte. Der Nordkarl hatte seinen Sündenbock gefunden. Ein kleines Volk von Menschen, das der Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges beinahe ausgerottet hätte.
»Und wieso sollten die Sinti gerade uns den Krieg erklären?«, wollte Korab wissen.
»Weils uns weghaben wollen vom See«, antwortete der Nordkarl. »Die wollen unsere Stellplätze übernehmen, ganzjährig. Aber da haben sie sich geschnitten. Wir gründen jetzt eine Bürgerwehr.«
»Wir haben Frühling«, gab Korab zu bedenken. »Im Frühling sind die Sinti ja noch nicht einmal da. Die kommen doch erst im Sommer.«
»Aber die Vorhut haben sie schon hergeschickt«, entgegnete der Nordkarl unbeirrt. »Und wenn die heute Torten an die Türen nageln, dann nageln sie morgen unsere Katzen und Hunde an. Aber das wird nicht passieren, Korab, weil wir uns wehren. Charaschó?«
»Was heißt das?«
»Ob du es verstanden hast, will ich wissen!«
»Ja«, gestand Korab, »ich hab verstanden, was du verstehst.«
»Und wann schaust du dir die Sauerei an?«, fragte der Nordkarl.
»Wenn möglich, heute noch. Sonst in den nächsten Tagen.«
»Sollen wir es stecken lassen?«
»Was?«
»Den Nagel und die Torte an deiner Tür.«
»Geht das, dass du irgendwas davor hängst? Oder etwas so hinstellst, dass es nicht jeder gleich sieht? Andere Passanten müssen das nicht unbedingt mitkriegen.«
»Geht klar.«
»Danke, Karl. Du hast was gut.«
»Aber keinen von deinen öligen Fischen. Mit denen kannst du gleich abfahren.«
»Mir fällt garantiert was Adäquates ein«, versprach Korab. Er verabschiedete sich, speicherte die Nummer des Nordkarls und bereute noch in der nächsten Sekunde das Wort adäquat. Solche abgehobenen Wortbrocken waren Gelee Royal für die Klischeebären unter den Dauercampern. Neben seinen unsteten Arbeitszeiten, dem Gitarrengeklimper, dem Buchfimmel und den beiden schmalen Stahlplastiken waren seine Fremdwortanfälle mitverantwortlich dafür, dass Korab in seiner Wahlheimat, dem kleinen Dorf am Pichlingersee, als Künstler wahrgenommen wurde. Für den Nordkarl und Korabs zweiten unmittelbaren Parzellennachbar, den Westkarl, war das Wort Künstler ein ganz besonders lustiger Spaß. Beide benutzten es vorwiegend dann, wenn er in seinem winzigen Garten war und keine andere Wahl hatte, als mit anzuhören, was auf der anderen Seite der Thujenhecke besprochen wurde. In solchen Momenten, die gottlob selten waren, zogen der Nordkarl und der Westkarl das ü in Künstler derart hingebungsvoll in die Länge, dass Korab unweigerlich an den Maiszünsler denken musste, einen winzigen, aber effektiven Schädling im Ackerbau. Manchmal, wenn er in der rostigen Freiluftbadewanne hinter seinem Wohnwagen saß, von seinen Kopfhörern geschützt, und stundenlang in einem dicken Roman las, empfand er sich tatsächlich als Fremdkörper in dieser Miniaturwelt, als Kuckucksei, das sich selbst an einen Ort gelegt hatte, wo außer Leviten nur Gratiszeitungen gelesen wurden.
Jemand hat eine Linzer-Torte an deine Gartentür genagelt. Dieser Satz ragte wie ein mächtiger Eiszapfen vor Korab aus dem Boden. Ein kaltes, unnahbares Glitzern, das gleichzeitig einen anziehenden Magnetismus verströmte. Wer war dieser Jemand, der eine solche Idee nicht nur ausbrüten, sondern auch so in die Tat umsetzen konnte, dass niemand am Campingplatz etwas davon mitbekam? In dieser Jeder-schaut-auf-jeden-Atmosphäre war es sogar für eine Wanzenfamilie kaum möglich, unbemerkt von einem Busch zum anderen zu übersiedeln. Irgendein Dauercamper hatte seine Teleskopohren immer durch die Hecken geschoben und seine Aufmerksamkeit wie ein Geflecht aus unsichtbaren Schlingen auf die schmalen Wege gebreitet. Dass es bei dieser lückenlosen Überwachung einem Fremden gelungen war, unbeobachtet eine Torte an eine Gartentür zu nageln, noch dazu mit einem derart klobigen Nagel, umgab diesen Jemand in Korabs Vorstellung mit der Aura eines Geistes. Wer war dieser Geist? Korab wusste nur ein einziges Faktum mit Sicherheit: Die Sinti kamen nicht in Frage. Er kannte diese Menschen und ihren scheuen Blick. Wenn sie während der Sommermonate am Parkplatz zwischen den Pappeln ihre Limousinen und Großraumwohnwägen abgestellt hatten, dann schauten sie nicht einmal versehentlich in die Richtung der anderen Campingplatzbenutzer. Nur ja nirgends anecken. Das war ihre Devise. Die Sinti wollten durchatmen und Kraft schöpfen für ihr kräftezehrendes Dauernd-auf-Achse-Sein, das nichts anders war als eine permanente Fluchtbewegung. Für Isonzo, der sich ebenfalls als Nomade begriff, waren sie Schicksalsgenossen, denen er ein Mal im Jahr, unterstützt von Korab, zwei Kartons voller geräucherter Donaufische als Willkommensgeschenk brachte. Bei dieser Gelegenheit kam man vor allem mit den Männern ins Gespräch und erfuhr, wie schwierig es geworden war, in Mitteleuropa Stellplätze für einen ganzen Clan zu finden. Und war dann endlich ein halbwegs passabler Ort entdeckt, dann versuchte man, dort möglichst wenig aufzufallen, um bitte, wenn machbar, auch in den nächsten Jahren noch geduldet zu werden. Dass die Sinti unter diesen Vorzeichen eine derart schroffe und bizarre Aktion gesetzt hatten, hielt Korab für absurd. Die gekreuzigte Torte musste das Werk eines Einzeltäters sein.
Wieso sollte dieser anonyme Gartentürverzierer nicht aus der Siedlung stammen? Oder vorhaben, in selbige einzuziehen? Seit Jahren war die Nachfrage nach Stellplätzen weitaus höher als das Angebot. Wer einmal drinnen war, baute sich ein und vererbte den Bunker an seine Kinder und Enkel. Nur Typen, die weder Kinder noch Verwandte hatten, würden sich vielleicht zu einem Abgang bewegen lassen. Vorausgesetzt, man machte ihnen mit einem gewissen Nachdruck deutlich, dass sie nicht in diese Umgebung passten.
Korab, der noch immer vor dem Automaten stand, steckte sein iPhone zurück in die Jackentasche und blickte erneut ins Innere des sperrigen Kastens. Die bunt glitzernden Schokostreifen und Müsliriegel erinnerten ihn daran, dass er noch kein Gastgeschenk für Herrn Scheuz besorgt hatte. Was bringt man einem Neunzigjährigen, der sich bereit erklärt hat, seine kostbare Zeit einem Historiker zu opfern?
Nachdenklich ging Korab über das Bahnhofsgelände und blieb vor einem Kiosk stehen. Dort kaufte er eine kleine Sonnenblume für Herrn Scheuz. Die Blume züchten, die Blume ernten, sie hierher bringen, lagern und präsentieren; das alles stand in einem guten Verhältnis zum Endpreis und zur Größe der erzielbaren Freude beim Beschenkten. Korab beschloss, bei seiner Rückfahrt noch eine zweite Van-Gogh-Rakete zu erwerben. So nannte Korab bei seinen Museumsführungen die von van Gogh gemalten Sonnenblumen. Anita würde sich freuen.
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