»Und wo ist dieses Dokument?«, wollte Timo wissen.
»Das ist genau die Frage«, sagte seine Großmutter, »weshalb wir beide jetzt hier sitzen. Wir müssen herausbekommen, wo sie wohnt. Dann sehen wir weiter.«
»Aber was sie behauptet, stimmt doch nicht, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Porofsky, »aber in politisch verworrenen Zeiten wie diesen führen auch bloße Behauptungen zu Untersuchungen, die höchst unangenehm werden können. Auch wenn wir viele von diesen Ratten ausgerottet haben, gibt es immer noch genug, die plötzlich aus irgendwelchen Löchern kriechen und Besitzansprüche geltend machen, die in so politisch überkorrekten Zeiten wie den unseren leider geprüft werden. Und damit das unter keinen Umständen passiert, müssen wir dieses verfluchte Miststück stoppen!«
»Was meinst du mit stoppen?«, fragte Timo.
»Das lass meine Sorge sein …«
Mit einiger Genugtuung registrierte die alte Frau, dass sie ihren Enkel in einer Tiefenschicht getroffen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass etwas von ihr Gesagtes Bedeutung gewann in einer Welt, die sich abgesehen von einem starken, einseitigen finanziellen Band längst von ihren Vorstellungen entkoppelt hatte. Werten, die ihr hoch und heilig waren, Familie, Rassenreinheit, Besitz, stand dieser Schwächling gleichgültig gegenüber. Solange er seinen Porsche fuhr und sich eine Identität als Naturfotograf suggerierte, war er mit seiner kleinen Welt zufrieden. Dass sein Vater Gert im Gefängnis saß, weil er die Fackel hochgehalten hatte, das hatte dieser Weichling schon nach der ersten Woche verdrängt. Wie konnte ein Apfel nur so weit vom Stamm fallen? Immerhin, wenn sein Besitz in Frage stand, fing sogar dieser faule Apfel an zu rollen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Und vielleicht würde diese unsägliche Angelegenheit dazu beitragen, aus Timo einen ähnlich wehrhaften, tatkräftigen Mann zu machen wie seinen Vater.
»Das könnte sie sein«, sagte Timo und zeigte hinüber auf die Figur einer alten, kleinen Frau, die soeben durch die elektrische Schiebetür der Altersresidenz ins Freie trat.
»Ja, das ist sie«, bestätigte Dorothea Porofsky mit einem sardonischen Grinser, »drück ab.«
»Was glaubst du, was ich hier tue?«, fragte Timo. »Die Fotos werden spitze.«
»Und jetzt fahr ihr nach«, befahl seine Großmutter, »aber immer schön vorsichtig.«
»Du nervst sowas von«, jammerte ihr Enkel.
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«
Frau Wagner überquerte die Straßenbahnschienen und bog ein in die Sonnensteinstraße.
»Sie geht zum Busbahnhof«, sagte Timo.
»Dann nichts wie hin«, sagte seine Großmutter.
Am Bahnhof angekommen stieg die alte Frau in einen Bus Richtung Steyr. Timo folgte dem Fahrzeug in wechselnden Abständen, sodass seine Großmutter keinen Grund hatte, sich über mangelnde Vorsicht zu beschweren.
Unsäglich waren nur die vielen Zwischenstopps, die dieser Pemperlbus an allen möglichen und unmöglichen Haltestellen diverser Schweinsnester einlegte. Als er über die erste größere Hügelkuppe nach Linz hinausgefahren war und den kleinen Ort St. Hippolyt erreichte, berühmt für eines der größten Barockstifte Europas, stieg Frau Wagner aus. Sie bemerkte weder den roten Porsche, der keine hundert Meter von der Haltestelle entfernt an einer Bordsteinkante lauerte wie ein geducktes sprungbereites Raubtier, noch dessen Insassen, die jeden einzelnen ihrer Schritte aufmerksam verfolgten.
»Steig aus und geh ihr nach!«, befahl Frau Porofsky.
Der Enkel tat, wie ihm geheißen, und folgte mit dem Fotoapparat im Anschlag der alten Irren, die im Stiftshof nicht in den Haupteingang abbog. Stattdessen bewegte sie sich weiter an der Fassade entlang, gelangte schließlich zur Basilika, ging auch dort am Eingang vorüber und marschierte weiter über den Friedhof. Timo hatte alle Füße voll zu tun, um Frau Wagner nicht aus den Augen zu verlieren. Mit gezücktem Fotoapparat, einen Touristen mimend, folgte er der alten Frau in einem Abstand von etwa einhundertfünfzig Metern und sah gerade noch, wie sie in einem Seiteneingang des Stiftes verschwand. Was jetzt? Timo fragte sich, ob er warten oder zurückgehen und Bericht erstatten sollte. So wie seine Großmutter sich momentan aufführte, war wahrscheinlich beides falsch. Nach kurzer Zeit entschied er sich für die Rückkehr und erzählte seiner Großmutter vom Trick der alten Wagner. Irgendwie hatte es ausgesehen, als sei sie einfach in der Stiftswand verschwunden.
»Gut«, sagte die alte Porofsky, »jetzt wissen wir wenigstens, wo sich dieses Miststück verkrochen hat. Jetzt haben wir genügend Zeit, um die anderen zu alarmieren.«
»Welche anderen?«, fragte Timo.
»Echte Männer«, antwortete Dorothea Porofsky, »also das Gegenteil von dir.«
Zuerst hatte Anita die Sekretärin des Papa-Gruber-Arbeitskreises kontaktiert und war auf wenig Begeisterung für ihr Interesse gestoßen. Dass Frau Lotte Wagner, ihre Präsidentin, verschwunden war und jetzt wegen Mordverdachts gesucht wurde, hatte den rührigen Haufen aus Laien und Kirchenprofis ganz offensichtlich aus der Fassung gebracht. Bemüht freundlich, aber mental aufgewühlt wie tote Blätter von einem Laubsauger, hatte die gute Frau um Verständnis dafür gebeten, dass unter den aktuellen Umständen keine näheren Auskünfte erteilt werden könnten. Für Fragen zur Person Dr. Gruber solle man doch bitte die Website abrufen. Da sei der aktuelle Forschungsstand für ein breites Publikum dokumentiert.
In einem zweiten Schritt hatten sich Anita und Korab diese Website angesehen und sämtliche online gestellten Artikel durchgeackert. Dabei hatten sie entdeckt, dass das Engagement für Johann Gruber immer wieder von den gleichen Personen getragen wurde. Besonders die Zuschriften an die Kirchenzeitung waren aufschlussreich gewesen. Den einsamen Rekord für eingesandte Artikel zum Fall Johann Gruber hielt ein Oberstudienrat aus Mattighofen. Er hieß Franz Scheuz, war über 90 Jahre alt und ein ehemaliger Schüler Grubers. Obwohl Korab sich angeboten hatte, das zu erledigen, hatte Anita darauf bestanden diesen Herrn Scheuz selbst anzurufen. »Ich klopfe und paniere die Schnitzel«, war Anita in diesem Zusammenhang metaphorisch geworden, »und du darfst sie herausbraten.«
Im vorliegenden Fall wäre diese strikte Arbeitsteilung gar nicht notwendig gewesen. Franz Scheuz war der wunderbarste Zeitzeuge, den man sich vorstellen konnte. Er hatte sich entzückt gezeigt über das Interesse an seinem verehrten Lehrer und war nur allzu gerne bereit gewesen, einem Geschichtsprofessor des LinzMuseums Auskünfte zu erteilen. Sowohl im Fall Johann Gruber als auch bei allen anderen Fragen, wo ein einfacher Greis, wie er sich ausdrückte, der hohen Wissenschaft noch behilflich sein konnte.
Jetzt saß dieser Historiker namens Pius Korab im vormittäglichen Zug von Linz nach Mattighofen und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Anstatt sich einzulesen und auf die Unterlagen zu konzentrieren, die ihm Anita über Dr. Gruber ausgedruckt hatte, dachte Korab in sekündlich wiederkehrenden, malariaartigen Schüben an die Zeitbombe, die er heute um zehn vor acht von Isonzo übernommen und ins Gemäldearchiv des LiMu hinuntergetragen hatte. Hinrichtung war cool gewesen wie immer. Ohne unnötiges Gequassel hatte er mitgeholfen, die Klimakiste zu verstauen, und sogar laut und deutlich okay gesagt, als Korab ihn gebeten hatte, die Aktion gegenüber Anita nicht zu erwähnen. Es gibt da ein paar Reibereien zwischen ihr und der Künstlerin. Ein bisschen Eifersucht, völlig unbegründet, aber du kennst ja die Frauen und so weiter. Korab versuchte, sich auf die Landschaft zu konzentrieren, sah aber nichts außer einem graugrünen Streifen, der viel zu schnell an ihm vorbeigezogen wurde. Schließlich gestand er sich ein, dass er sein Hauptthema nicht länger ignorieren konnte.
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