Wenn er seinen freien Dienstvertrag im LiMu verlor, dachte Korab, dann ging nur eine seiner Welten unter. Aber für Hinrichtung und Anita war das LiMu der Hauptarbeitgeber. Und dem, personifiziert durch Ughde, legten der Krake und er ein Drachenei in den Bauch, das, wenn es von unbefugten Augen ausgebrütet wurde, die Bude in die Luft sprengen würde. Wenn das alles gut geht, schwor sich Korab, dann spendiere ich Mooser zwei Packungen Eiswafferl.
»Wie geht’s dir, Hasenfuß?«, fragte eine weibliche Stimme, die so weiblich war wie die Innenseite einer reifen Papaya. Korab kam wieder zu sich und bemerkte, dass er das iPhone noch immer an sein Ohr hielt. Er war ein alter Fernseher mit nur zwei Programmen. Jemand hatte den Kraken ausgeschaltet und den anderen Sender zugeschaltet. Auf dem lief Mollys Lolly, eine Art Dschungeldokumentation mit märchenhaften Elementen. Die Hauptrolle spielte eine junge Frau, die zu schön war, um wahr zu sein, und deshalb virtuell blieb.
»Stressig«, sagte Korab endlich.
»Das kommt vom vielen Flüchten und Laufen«, erklärte Molly sanft und ruhig.
»… und zu viel Kamillenteesaufen«, hörte Korab Isonzo aus dem Hintergrund. Offensichtlich saßen sein Freund, Molly, der Krake und Seinfreund noch immer in der Jurte.
»Deine Schwester ist sehr besorgt um dich und lässt schon wieder nachfragen«, fuhr Molly milde fort, »wann du zum Essen kommst.«
Als seine Schwester hatte Isonzo noch niemand bezeichnet. Blutsbruder wäre richtig gewesen. Wahrscheinlich waren in Mollys Kosmos alle Wesen weiblich.
»Morgen«, antwortete Korab ausweichend, »allerfrühestens im Lauf des Tages irgendwann. Heute geht leider nicht mehr. Ich muss Anita helfen. Wir haben einen neuen, sehr komplexen Fall und müssen jetzt recherchieren. So wie du bei den Papuas.«
»Was weißt du von mir und den Papuas?«, erkundigte sich Doktor Müller belustigt, ohne dass sich die Frequenz ihres Herzschlags auch nur um ein Millimolly erhöht hätte.
»Nichts Genaueres«, gab Korab zu, »aber Isonzo hat da was angedeutet.«
»Was denn?«
Dass der Ozean dein Fruchtwasser ist, dachte Korab und sagte: »Allgemeines … dass du dort deine Dissertation geschrieben hast. Aber nichts Konkretes.«
»Würdest du denn gerne was Näheres erfahren?«
»Na ja … schon … wenn das ginge.«
»Das ginge echt easy«, bestätigte Molly, »aber nicht am Hallofon.«
»Wir sehen uns ja hoffentlich wieder einmal.«
»Sehr hoffentlich sogar«, zog Molly die Schraube an, »da freu ich mich drauf.«
Nachdem er aufgelegt hatte, war sich Korab nicht sicher, ob diese Freude auch seinerseits war. Ganz bestimmt wusste er nur, dass die Geilheit mit ihm war. Aber der Preis, um diese auszuleben, erschien ihm relativ hoch. Molly war ein Eingeborenentempel. Als Gegengabe für die Himmelfahrt würde sie sein Herz aus der Brusthöhle reißen und es irgendeinem Xeptocotltschebotl in den Rachen werfen. Molly Müller war kein Fels in der Brandung, sie war die Erde selbst, auf der Felsen und Brandungen aufeinanderschlugen. Molly war der Acker und er ein Distelsamen, kurz davor hinunterzufallen in die Furche. Wilde Bilder frästen tiefe Schnitte in sein Hirnholz. Steh auf und geh hinunter zu Anita, sagte er sich, und fang an zu recherchieren.
Unter den gegebenen Umständen war Dorothea Porofsky mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden. Sie hatte Timo, ihren unsäglichen Enkel, diesen Kretin, schon halbwegs vom Ernst der Lage überzeugt. Und was noch wesentlich wichtiger war: Sie hatte die Spur der irren Wagner wieder aufgenommen. Genau an dem Ort, wo sie es erwartet hatte: in der Kursana-Residenz. Dort saß die einzige noch lebende Mitverschwörerin von damals, Klara Artner, ihren Lebensrest ab. Wie gut, dass Porofsky sie im Auge behalten hatte.
Die alte Artner, dieses ewig ängstliche Opfertier, hatte ihr am Telefon erzählt, nach einem zugegeben donnernden Moment der Überraschung und des Schreckens, dass sich Wagner zu einem nachmittäglichen Besuch bei ihr angesagt hatte.
Natürlich hatte Porofsky diesen Schritt erwartet und Artner sofort an ihre Jahrzehnte alte Abmachung erinnert, unter keinen Umständen irgendetwas zu unterschreiben, was die Sache Gruber betraf. Täte sie das, müsste sie auf der Stelle aus dem Heim ausziehen und ins Gefängnis übersiedeln. Mord verjährt nicht! Und sie war eine der Anstifterinnen, deren Verleumdung zu Dr. Grubers Ermordung geführt hatte. Artners uralte Angst war sofort wieder mit aller Wucht aufgebrochen. Die meisten Menschen blieben ein Leben lang manipulierbar, sagte sich Porofsky und gönnte sich einen Moment des nachhallenden Triumphes. Sie saß neben Timo in seinem Porsche, den er ihr verdankte, und blickte abwechselnd hinüber zum Eingang des Luxusaltersheims und auf Timo, der das Teleobjektiv auf seiner Kamera justierte.
»Sobald die Wagner rauskommt«, sagte Porofsky, »machst du Fotos von ihr.«
»Das hab ich schon kapiert«, sagte Timo. Er klang ärgerlich. Schon seit sie hier angekommen waren, hatte ihn seine Großmutter mit diesem Befehl genervt.
»Und dann folgst du ihr«, überging Dorothea Porofsky die Unmutsäußerung, »unauffällig, wenn das mit diesem Wagen überhaupt möglich ist.«
»Ich bin ja kein Volltrottel«, verteidigte sich Timo.
»Was du noch nie beweisen hast müssen«, ergänzte seine Großmutter kühl.
»Sag einmal, spinnst du schon komplett?«, brauste Timo auf. »Was ist denn los mit dir? Zuerst kann ich gar nicht schnell genug bei dir sein und jetzt beleidigst du mich in einer Tour? Du hältst mich für zu blöd, dass ich eine alte Schachtel fotografiere und sie verfolge. Warum?«
»Du hast noch immer nicht kapiert, was auf dem Spiel steht.«
»Dann erklär’s mir – bitte!«
»Wenn du dein parasitäres Leben in dieser Form auch nur halbwegs weiterführen willst, dann müssen wir diese Alte stoppen. Wir müssen herausfinden, wo sie haust. Der Fortbestand unseres Vermögens und unseres Familienbesitzes ist in Gefahr.«
Timo schnaubte, versagte sich aber eine Reaktion. Seine Großmutter hielt das Heft in der Hand.
»Und jetzt die ausführliche Fassung: Unser Zinshaus, dem wir alle unsere sorgenfreie Existenz verdanken, hat vor gar nicht so langer Zeit einer jüdischen Familie gehört. Dein Urgroßvater, Gott habe ihn selig, war bei dieser Familie Rabental als Hausmeister angestellt. Als die Zeiten für das jüdische Volk schwieriger wurden, hat ihm Herr Ariel Rabental das Haus zu einem günstigen Preis verkauft. Als Dank für seine Treue und seine redlichen, langjährigen Dienste. Gleich danach hat man diese Familie, die Eltern und zwei Töchter, abgeholt und nach Mauthausen deportiert. Aber ein gewisser Johann Gruber, ein geldgeiler, katholischer Priester, ein Schullehrer und selbsternannter Historiker, hat schon damals behauptet, dass ihn die jüdische Familie vor ihrer Deportation aufgesucht hätte, um ihm anzuvertrauen, dass das Zinshaus nicht freiwillig an meinen Vater abgetreten wurde. Das war natürlich ein typischer Schachzug dieser verfluchten Judenbrut. Zum Glück war dieser Priester in der damaligen politischen Landschaft schon schlecht angeschrieben. Er war bekannt als Judenversteher und, mindestens ebenso schlimm: Er hat sich uns jungen Mädchen unsittlich genähert. Das haben ich und ein paar andere Mädchen aus der Klasse beim Direktor unserer Schule zu Protokoll gegeben. Daraufhin wurde dieser Johann Gruber vom Unterricht weg verhaftet und nach Gusen ins KZ verfrachtet, wo er auch gestorben ist. Und jetzt plötzlich kommt diese alte Irre anmarschiert, die auch eine Gruberschülerin war, und behauptet, ich und die anderen Mädchen hätten gelogen und dieser Priester hätte die Wahrheit gesagt.«
»Und warum hat sie damit so lange gewartet?«, fragte Timo.
»Weil jetzt in irgendeinem Nachlass ein Dokument von diesem Gruber aufgetaucht ist, das ihre Aussagen angeblich beweist. Und falls dieses Dokument tatsächlich existiert, dann könnte sie uns damit dein Erbe streitig machen.«
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