Johann Gruber, begann Korab zu lesen, war einer der sechzehn oberösterreichischen Priester, die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Der Grund dafür, warum man ihn am 9. April 1944 im KZ Gusen zu Tode gefoltert hatte, war, dass er aus seiner Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus nie einen Hehl gemacht hatte. Um ihn aus der Schule entfernen zu können, wo er bei seinen Schülern ungeheuer populär war, wurden ihm sexuelle Übergriffe unterstellt. Fünf Schülerinnen hatten ihn angezeigt, weil er sich ihnen angeblich unsittlich genähert hätte. Hauptanstifter dieser Denunziation, neben ein paar anonymen Nutznießern, war ein gewisser Josef Baumgartner, ein Lehrerkollege Grubers, der vom Eifer für das NS-Regime ebenso zerfressen war wie vom Neid auf Gruber und dessen Beliebtheit. Im KZ hatte Gruber sofort Freunde aus allen Nationen Europas gefunden, weil er ein Herzens-Esperanto sprach, das alle verstanden. Er war unerschrocken und groß in seiner Seele, auf steter Suche nach neuen Quellen, aus denen er Hilfe und Kraft schöpfen konnte. Im KZ organisierte er eine illegale Schule, indem er die vielen Lehrer, die inhaftiert waren, dazu anhielt, ein oder zwei Kinder geheim zu unterrichteten. Er nutzte seine etwas privilegiertere Stellung im KZ, um Kartoffeln zu stehlen und sie in der heißen Asche des Krematoriums zu braten. Er machte keinen Unterschied zwischen den Menschen, sondern linderte das Leid von Katholiken und Kommunisten. Er wollte so viele Häftlinge wie möglich retten und der Welt zeigen, dass Österreich nicht der bedingungslose Verbündete der Nazis war. Als Anfang 1944 im KZ ein Brief Grubers an den Bischof abgefangen werden konnte, wurde ihm dieses geheime Informationsnetz zum Verhängnis. Im Lager Gusen sollte Gruber zum Selbstmord gezwungen werden. Gruber wurde nackt in einen Bunker gesperrt, wo man ihm einen Strick hinwarf, an dem er sich erhängen sollte. Als er das nicht tat, kam der Lagerkommandant Seidler persönlich und schoss ihm mit der Pistole in den Bauch. Als er trotz der schweren Schussverletzungen weiterlebte, malträtierten ihn anonyme KZ-Wächter so lange mit Bajonettstichen und Stacheldraht, bis er starb.
Korab schloss die Mappe mit den Notizen und starrte nachdenklich durch das trübe Fensterglas. Dort draußen lag eine Welt, in der Konzentrationslager gebaut worden waren. Dieser Welt konnte man nicht entrinnen, indem man immer weiter mit dem Zug durch sie hindurchfuhr. In ein paar Minuten würde er aussteigen und versuchen müssen, sich konkret mit dem langen Schatten Doktor Grubers zu arrangieren.
Am Bahnhof von Mattighofen sprang Korab aus dem Waggon, entfernte sich mit ein paar flinken Schritten vom Eingangsbereich und stellte sich in den Windschatten eines Snack-Automaten. Sämtliche Passagiere hasteten an ihm vorüber, als hätten sie Scheuklappen an den Schläfen. Die Momente, in denen er mit anderen Menschen aus Zügen und über Bahnsteige quoll, empfand Korab als ähnlich gefährlich wie jene Augenblicke an der Supermarktkasse, kurz bevor die nachdrängenden den bereits zahlenden Kunden ihre Einkaufswägen in die Achillesfersen rammten. An solchen Kulminationspunkten hätte Korab immer laut schreien können; weniger vor körperlichem Schmerz als vor Wut über die plötzliche Spürbarkeit jener künstlichen Geschwindigkeit, die den natürlichen Lebensrhythmus der menschlichen Spezies nicht nur ignorierte, sondern auch destabilisierte. Die Popostmoderne, Isonzos entlarvendes Wort für die Gegenwart, zwang den Menschen ein Tempo auf, das sie immer weiter voneinander entfremdete.
Korab rückte näher an den Automaten heran und blickte durch die Glasfront ins Innere des klobigen Kastens. Dort stapelten sich diverse Snacks und Müsliriegel, die ihn mit ihren kreischend bunten Umhüllungen an die Schlafsäcke von Zwergen erinnerten. Noch während Korab überlegte, wohin diese Zwerge unterwegs waren, wenn sie nicht schliefen, plätscherte sein iPhone. Korab griff in seine Jacke, blickte kurz und ratlos auf die Ziffern einer unbekannten Nummer und nahm das Gespräch an.
»Seeervaaas.« Die beiden Vokale quollen aus dem Mikrofon wie alte, zähe Schmelzkäsepfropfen.
»Grüße«, erwiderte Korab neutral.
»Ich bins.«
»Super.«
»Was heißt da super? Was glaubst du denn, wieso ich anrufe?«
»Keine Ahnung.«
»Das kann ich mir denken. Du bist ja nie da, wenn man dich braucht.«
Die Stimme des Anrufers klang so fern, als befände sich ihr Besitzer nicht nur räumlich, sondern auch mental am Rand einer Polkappe. Da rang sich jemand ein Telefonat ab, der sonst nicht viel mit dieser Art der Kommunikation am Hut hatte. Korabs innerer Stimmdecoder kürzte die unter diesen Vorzeichen zur Auswahl stehenden Personen auf drei Kandidaten. Entweder er sprach mit Charon, dem Fährmannskelett, das die Toten über den Styx rudert und sich hoffentlich verwählt hatte, oder er war mit King Kong verbunden, der eine junge, blonde, leicht bekleidete Menschenfrau verloren hatte und jetzt jemanden anheuern wollte, der sie zurückbrachte. Bei der dritten zur Debatte stehenden Person handelte es sich um einen seiner Campingplatznachbarn, den Nordkarl, einen pensionierten Eisenbahner, dessen Parzelle unmittelbar an seine grenzte. Vor Jahren, als er am Campingplatz eingezogen war, hatte Korab allen Nachbarn Visitenkarten von sich gegeben. Für den Fall der Fälle. Wenn etwas sein sollte. Man weiß ja nie, was alles passiert, wo doch heute so viel passiert. Der Erste, den er damals aufgesucht hatte, war der Nordkarl gewesen. Er lebte in einem Luxuswohnwagen, den eine Gartenzwergarmee bewachte, die anstelle von Spaten Plastikgewehre trug und laut ihrem Anführer sowohl den Russen als auch die Schlitzaugen in die Flucht schlagen würde.
»Du hast eine Torte gekriegt«, sagte der Nordkarl, den Korab als mögliches Gegenüber vorerst an die erste Stelle setzte.
»Auch super«, erwiderte Korab und bestärkte sich gleichzeitig darin, dass es gut und richtig gewesen war, diesen Wortsaurier zweimal hintereinander zu bemühen. Super zu sagen oder in den letzten öffentlichen Zellen zu telefonieren verstand Korab als anachronistische Akte, als Mini-Expeditionen in die Schutzräume seiner Vergangenheit. Dort war es angesichts geringerer Lebenstempi noch ein wenig leichter, dem virtuellen Sog zu widerstehen, in dem der Rest der Menschheit herumgewirbelt wurde.
»Wie man’s nimmt«, sagte der Nordkarl.
»Dann nehmen wir es doch einfach leicht«, schlug Korab vor.
»Ja. Das kann ich mir vorstellen. Das hättest du gerne«, grinste es durch den Äther. »Aber du wirst dich noch wundern.«
»Wieso?«
»Hast du schon einmal einen Zweihunderter-Nagel gesehen?«
»Du meinst so einen Zimmermannsnagel mit zwanzig Zentimer Länge?«
»So in etwa …«
»Ja. Mit solchen Nägeln haben ein Freund und ich ein Baumhaus gebaut.«
»Dann weißt du ja, wie sowas ausschaut.«
»Ja, ungefähr. Aber wieso sollte ich das so genau wissen?«
»Weil dir wer eine Linzer Torte mit einem Zweihunderter-Nagel mitten auf deine Gartentür genagelt hat. Samt Karton. Der Nagel ist durch die Pappe, die Torte und das Holz gegangen und schaut mit der Spitze wieder raus.«
Der Pegel von Korabs Selbstwert, einem pfützenförmigen Himbeerpudding, sank um mehrere Zentimeter nach unten. Die scharfe Spitze des Zweihunderter-Nagels hatte nicht nur Holz und Tortenmasse durchstoßen, sondern auch ein paar von Korabs äußeren Seelenlamellen. Solche Wunden waren furchtbar, weil sie sich kaum behandeln ließen. Nur das Selbst konnte sich selbst verarzten, fand aber oft genug weder das richtige Werkzeug noch die genaue Stelle, an der seine fragile Oberfläche verletzt worden war.
»Ja, da schaust du«, sagte der Nordkarl, dem Korabs spürbare Betroffenheit ganz offensichtlich einen Moment der Genugtuung bescherte.
»Jemand hat eine Linzer-Torte an meine Gartentür genagelt?«, versuchte Korab, mithilfe einer Zusammenfassung wieder auf Touren zu kommen.
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