Zufrieden mit ihrem Werk gibt sie mir ein Zeichen, vom Podest zu steigen. Sie kommt auf mich zu, stellt sich vor mich hin, zieht erneut ihre Karte hervor und streckt sie mir huldvoll und mit stolzem Blick entgegen. Sie ist sich sicher, dass ich sie nicht vergessen werde.
Das Aufwachen aus dem Bühnenschauspiel der Eisprinzessin fällt mir schwer. Mir ist wirklich kalt geworden und ich drehe die Heizung hoch. Brrrrr, was für ein kaltes und einsames Leben! Was wollte sie mir damit zeigen? Stolz auf etwas zu sein, was ich erreicht habe, oder der Stolz auf meine Kinder, ist daran etwas nicht in Ordnung? So ganz verstehe ich ihren Auftritt nicht. Noch am nachdenklichen Erkunden der Botschaft klingelt das Telefon. Mein Vater ist am anderen Ende und versucht mich auf seine sanfte Art zu überzeugen, einen Schritt auf meine Mutter zuzugehen, mit der ich bereits seit Wochen keinen Kontakt habe. Wir hatten uns wieder einmal gestritten und ich sehe überhaupt nicht ein, wieso ICH jetzt wieder den ersten Schritt machen soll. Sie war jetzt mal dran! Ende der Diskussion. Mein Vater hört schweigend zu und sagt dann mit seiner ruhigen Stimme: „Silke, leg doch mal deinen Stolz beiseite und betrachte die Situation noch einmal neu.“ „Nein, das werde ich nicht. Ich habe keine Lust ihr jedes Malhinterherzurennen und immerden ersten Schritt zu machen!“, antworte ich. Wir beenden unser Gespräch und in dem Moment, als ich den Hörer auf die Station zurücklege, stutze ich: Was hatte er gesagt? Leg deinen Stolz beiseite? Wie kommt er denn auf so was? Ist das etwa Stolz, wenn alle Fakten für mich sprechen und ich mich deswegen weigere, einen Schritt auf sie zuzugehen? Gelinde ausgedrückt bin ich gerade etwas verwirrt. Mir schwirrt der Satz durch den Kopf: „Dabei wird dir schon kein Zacken aus der Krone brechen“ und ich sehe die Eisprinzessin vor meinem inneren Auge auftauchen, die einsam in ihrem kühlen, schönen Schloss lebt. In mir tauchen Bilder auf, die mich daran erinnern, dass ich mich auch schwertat, nach einem Konflikt auf meine Tochter zuzugehen, wenn ich der Ansicht war, dass es an ihr war, den ersten Schritt zu machen. Dann kann es Tage dauern, bis wir wieder miteinander sprechen. „Falscher Stolz“, schießt es durch meinen Kopf. Ja, anscheinend gibt es wirklich so etwas wie „richtigen“ und „falschen“ Stolz. Falscher Stolz scheint eher etwas zu sein, was mit Angst zu tun hat. Angst, etwas zu verlieren vielleicht. Nur was? Was würde ich verlieren, wenn ich auf meine Mutter zuginge? Meinen Stolz. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Was geschieht, wenn ich meinen Stolz aufgebe? Ich werde verletzt. Der Eispanzer ist mein Schutz vor Verletzungen. Dann muss ich ihn behalten. Nicht nur, weil meine Mutter die Macht hat, mich mit ihren Worten zu verletzen, sondern auch, weil das Leben immer wieder die Gefahr birgt, verletzt zu werden. So betrachtet ist der „falsche“ Stolz doch gut, oder nicht? Ich bin verwirrt. Wenn ich diesen Schutz loslasse, ist das so, als wenn ich mich sehenden Auges auf ein Nagelbrett fallen lassen. Da ich kein Fakir bin, werden sich die Nägel in meinen Körper bohren und mich schwer verletzen. Nein, nein, das mache ich auf keinen Fall. Wenn ich zwischen Eispalast und Verletzungen wählen muss, dann entscheide ich mich für den Eispalast. Der tut wenigsten nicht so weh.
Ich beschließe, dass es für heute genug mit meinen Besuchen im Marionettentheater ist, und gehe ins Bett. Einfach nur schlafen, das ist alles, was ich im Moment noch möchte.
Eine tiefe, traumlose Nacht hat dafür gesorgt, dass ich am nächsten Tag entspannt aufwache. Heute habe ich den ganzen Tag Zeit, mich meinen Marionetten zu widmen. Auch wenn die Erlebnisse mit den ersten drei Marionetten aufwühlend waren, so freue ich mich doch auf weitere Begegnungen. Ihre Aufführungen sind spannend und passen zu meinen Erlebnissen, sogar dann, wenn ich ihre Botschaften noch nicht vollkommen begreife.
Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, mache ich es mir wieder auf meiner Couch gemütlich. Ich muss schmunzeln. Wenn jemand wüsste, wie ich mein Wochenende verbringe, würde ich wahrscheinlich für verrückt erklärt werden. Mit einem Grinsen auf den Wangen und gespannt, wen ich als Nächstes kennenlerne, schließe ich meine Augen und stelle mir mein Marionettentheater vor.
Der Narr
Als ich die Bühne betrete, wechselt die Bühnenleinwand ihr Bild. Vor meinen Augen erscheint ein türkisches Bad in blauen und türkisfarbenen Fliesen. Treppen aus Mosaiksteinen, von goldenen Handläufen gesäumt führen ins Wasser. Die Kuppel des Bades ist aus Glas. Sie fängt das Sonnenlicht ein und zaubert Lichtspiele an die Wände und den Boden. Das Klingen von näher kommenden Schellen dringt zu mir hindurch. Ihre Karte schwungvoll vor sich herschwenkend kommt eine kunterbunt gekleidete Marionette mit einer Narrenkappe auf dem Kopf auf mich zu. Neugierig versuche ich, nach der Karte zu greifen, doch geschwind springt sie mit einem breiten Grinsen davon. Noch im Sprung wirft sie mir die Karte zwinkernd zu. Etwas unsicher, ob ich sie mir jetzt anschauen darf, beginne ich zu lesen:
Künstlername: Narr
Ursprünglicher Name: Neid
Genre: Satire
Kleidungsstil: kunterbunt, Narrenkappe
Besonderes Merkmal: klingende Schellen
Die Marionette kommt wieder auf mich zu, nimmt ihre Karte an sich und steckt sie unter ihre Kappe. Sie dreht sich um und bittet mich mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Ihren betörenden, klingenden Schellen folgend finde ich mich alsbald im Wasser treibend wieder. Umgeben von marmorner und goldener Schönheit bade ich genussvoll in warmem flüssigem Gold. Die klingenden Schellen entführen mich in eine Welt, in der ich all das habe, um das ich andere Menschen beneide: unermesslichen Reichtum, Anerkennung, Erfolg, Schmuck und Edelsteine, eine Jacht, unzählige Autos, Kleidung von Prada und Gucci, eine Villa am Strand … Eingesponnen in meinem Traum schießt plötzlich eine pechschwarze, nach Teer stinkende Hand aus dem flüssigen Gold, greift nach mir und zieht mich unter die Wasseroberfläche. Das wohlig warme Gold verwandelt sich in eine gelbe, übel riechende, eklige, blubbernde Masse. Ich sinke tiefer und tiefer. Gelbes Gift strömt in meinen Körper und ich sinke auf den Beckenboden. Wie aus weiter Ferne dringen das Lachen und klingende Schellen zu mir herunter. Langsam verebben die Geräusche und das Gelächter verstummt. Gift und Galle spuckend tauche ich wieder auf. Das wundervolle türkische Bad hat sich in einen leeren, öden Raum verwandelt. In der Ferne sehe ich die entschwindende Silhouette der tanzenden Marionette. Als Souvenir hat sie mir eine Kopie ihrer Karte dagelassen. Ich nehme sie in die Hand und schaue sie mir nochmals genauer an. Auf der Vorderseite sehe ich das türkische Bad abgebildet, ich drehe die Karte um und erblicke das Bild eines lachenden Narren in einem öden und leeren Raum.
Ich öffne meine Augen. Das wohlig warme, goldene Wasser war so schön und all die Reichtümer erst, doch der öde, leere Raum gefiel mir gar nicht. Aus welchem Grund hat die Marionette sich für den Namen „der Narr“ mit dem Ursprung Neid entschieden? Viel schöner wäre doch der Name „Wunsch“ oder „Traum“ und als Ursprungsname „fliegende Fantasie“! Ja, das hätte mir viel besser gefallen. Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich über die Botschaft nicht weiter nachdenken. Ihre Wirkung im Alltag ist mir nur zu bekannt. Das sind die Situationen, in denen ich entweder den Erfolg eines anderen Menschen infrage stelle, mich freundlich herablassend über diesen Menschen äußere oder vor Wut die Decke hochgehen könnte, weil dieser Mensch etwas vor mir erreicht hat. Ein wirklich unangenehmes Gefühl. Neid bewirkt, dass ich Menschen nicht mehr in die Augen schauen kann. Und wenn ich es ganz genau betrachte, dann sehe ich doch hinter dem lachenden Narren Madame Eva mit ihrer filigranen Maske hervorblitzen. Was für eine Überraschung! Da scheint ja ein Zusammenhang zwischen einigen Marionetten zu bestehen, der mir genauso wenig bewusst ist wie das Wirken jeder einzelnen Marionette in meinem Alltag. Es scheint Sinn zu machen, mir die nächsten Künstler anzuschauen, bevor ich beginne darüber nachzudenken, was ich mit ihren Botschaften anfange. Vielleicht gibt es mehr Zusammenhänge, als ich mir im Moment vorstellen kann.
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