Wie auch immer ich nach solchen Situationen reagiere, ist im Grunde einerlei, nur eines ist sicher: Diese immer wiederkehrenden Konflikte sind anstrengend und rauben mir meine Kraft. Zumal mein Leben nicht nur aus dem Zusammensein mit meiner Tochter besteht, sondern noch eine Vielzahl an weiteren Herausforderungen für mich bereithält, wie die angespannte finanzielle Situation, den zermürbenden Kampf um Harmonie mit meiner Mutter, die Sehnsucht nach einem Seelenpartner, um nur einige zu nennen. Auch mache ich mir Sorgen darüber, wie mein Verhalten gegenüber meiner Tochter Sammy sich auf ihren jüngeren Bruder Pascal auswirkt. Hat er in diesen Situationen Angst vor mir? Versteckt er sich? Ist er wütend auf mich, auf uns? Was geht in ihm vor? Mit diesen Fragen wächst mein Scham- und Schuldgefühl zu einem riesigen Monster heran, dem ich nicht gewachsen bin, und am liebsten würde ich mich in einer einsamen Höhle verkriechen, um nichts mehr sehen, hören und vor allem fühlen zu müssen. Es gibt Tage, da bin ich hin- und hergerissen zwischen meinen eigenen Erwartungen, den Erwartungen anderer Menschen an mich und meine Kinder und den moralischen Erwartungen der Gesellschaft. Dann überkommen mich Zweifel, ob ich all dem jemals gerecht werden kann, und ich schaue neidisch auf die Menschen, die aus meiner Sicht all das haben, was mir fehlt: einen liebevollen, unterstützenden Partner, finanzielle Sicherheit, ein harmonisches Familienleben, einen Job, der ihnen Freude bereitet. Sie können es sich erlauben, in den Urlaub zu fahren, die Welt zu erkunden, haben ein schönes Heim und Pläne für die Zukunft. Ihr Äußeres ist stets makellos, ihre Kinder sind wohlgeraten und ihr einziges Problem scheint im Unverständnis gegenüber Menschen zu liegen, die nicht wie sie so ein perfektes Leben haben. Wenn ich sie beim Einkaufen oder an einem anderen Ort mit ihrem süffisanten Tonfall darüber sprechen höre, macht sich in mir ein Gefühl von Scham breit, weil ich es einfach nicht schaffe, mein Leben so perfekt zu gestalten.
Sicher, es gibt auch schöne, helle Momente, vor allem mit meinen Kindern und Freunden, doch diese wirken im Vergleich zu den anderen sehr blass und sind von wesentlich kürzerer Dauer.
In den wenigen Stunden, in denen ich mit mir alleine bin, habe ich oft den Eindruck, ich wäre Teil eines mysteriösen Marionettentheaters, welches seinen unwirklichen Zauber über mich ausbreitet und mich in sein Theaterstück hineinzieht. Vielleicht sollte ich dieses Theater einmal näher betrachten. Nur wie? Eine Erinnerung aus vergangenen Zeiten taucht auf. Ich sehe mich als Kind, eingetaucht in die Welt meiner Fantasie. Ja, als Kind war mir die Welt der inneren Bilder sehr vertraut. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, mir vorzustellen, wie die Marionetten aussehen könnten, wie sie ihr Bühnenbild gestalten und welche Aufführung sie für mich inszenieren. Am besten, wenn Sammy und Pascal bei ihrem Vater sind. Dann habe ich Ruhe und genügend Zeit. Mein Bauch fängt an zu kribbeln. Ich kann es kaum erwarten, diesem mysteriösen Gefühl auf die Spur zu kommen.
Meine Marionetten
Es ist Freitagabend, Sammy und Pascal sind gut gelaunt ins „Papa-Wochenende“ aufgebrochen und ich freue mich, dass ich bis Sonntagabend Zeit habe, mich meinem Marionettentheater zu widmen. Ich mache es mir auf der Couch gemütlich und bin gespannt, ob und was sich mir zeigen wird. Als Kind habe ich es geliebt, in meine innere Welt zu reisen und sie lebendig werden zu lassen. Wie oft sind meine Freunde und ich in Rollen geschlüpft, oft inspiriert durch unsere damaligen Helden, wie Winnetou und Peter Pan. Wir spielten unsere Rollen mit Hingabe und Leidenschaft und vergaßen, wer wir wirklich waren. Selbst in meinen Träumen begleiteten mich unsere spielerischen Aufführungen. Wie oft war ich Winnetou, gefesselt an einem Marterpfahl, bis mein bester Freund Old Shatterhand mich rettete, oder konnte fliegen wie Peter Pan. Mein Herz fängt an zu rumoren, so, als ob etwas aufbricht, und zwei Tränen bahnen sich ihren Weg. Tränen der Erinnerung und Sehnsucht. Sehnsucht, die mich ruft und lockt, mich bittet, einzutauchen in meine vergessene Welt.
Kann ich das heute noch, obwohl ich es so viele Jahre nicht mehr gemacht habe? Wieso eigentlich? Weil Erwachsensein bedeutet, den Ernst des Lebens zu erkennen? „Das Leben ist kein Ponyhof!“ „Hör auf zu träumen und stell dich der Wirklichkeit!“ „Zum Spielen ist die Kindheit da!“ Hat mein Leben dadurch seinen Glanz und sein Strahlen verloren? Die Leidenschaft und Begeisterung? War das der Grund, wieso ich nicht mehr träumen kann, meine Leichtigkeit und Verspieltheit verloren habe? Dass ich mich getrennt von allem fühle? Als Kind war ich mit allem verbunden, was mir begegnete: mit Menschen, Tieren, Bäumen, Pflanzen, den Wolken, dem Regen, der Sonne. Habe ich meinen Schlüssel zur Magie des Lebens einfach fallen lassen und vergessen, ihn wieder aufzunehmen, weil die äußere Welt wichtiger wurde als die innere? Meine Augen werden feucht. Traurigkeit und Wehmut bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Ich fühle mich, als ob ich das Wertvollste, was es in meinem Leben gab, einfach aufgegeben hatte. Nicht wissend um den Preis, den es mich kosten würde. Ich habe mein Kindsein verloren, meine kindliche, fröhliche Begeisterung und Neugier durch Wissen und Fakten ersetzt. Was hat es mir gebracht? Anstrengung, Schmerz, Kampf, Gefühllosigkeit. Ein Leben, gestaltet wie eine unendliche To-do-Liste in einem tristen Grau. Nur unterbrochen durch das Aufblitzen flüchtiger, farbiger Momente, die viel zu schnell vergehen. Mein Gott, was habe ich getan? Ich weine, bis mein Herz sich beruhigt und Wehmut, Traurigkeit und diese lockende Sehnsucht sich in sanfte Stille verwandeln. Überrascht und verwundert öffne ich meine Augen. Was war denn das? Woher kamen all diese Gedanken und Gefühle? Ich wollte doch nur meinem Eindruck, dass mein Leben manchmal einem Marionettentheater gleicht, auf die Spur kommen. Im Moment fühle ich mich jedoch eher, als hätte ich den Schlüssel zu einer vergessenen und mir verborgenen Welt gefunden. Ich fühle mich zarter, weicher und auch verletzbarer. Es fühlt sich sonderbar an. Ungewohnt. Ich atme tief ein, so, als ob ich diesen neuen Zustand in mich aufnehmen möchte. Das ist verrückt und unendlich schön.
Noch einmal nehme ich einen tiefen Atemzug, schließe meine Augen und versuche, mir mein Theater vorzustellen. Es fühlt sich seltsam an, meine innere Welt nach so langer Zeit zu betreten. Langsam formt sich vor meinem geistigen Auge ein Raum, eingehüllt in einen dichten grauen Schleier. Ich schaue genauer hin. Nein, das ist kein Schleier. Das ist eine dicke, fette Staubschicht. Kein Wunder, es ist sicher schon über zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Ich hole tief Luft, puste kräftig und finde mich hustend und spuckend in einer gigantischen Fusselwolke wieder. Es wird Zeit, gründlich sauber zu machen. Mit einem überdimensionalen Staubwedel bewaffnet mache ich mich ans Werk. Was für eine Freude! Ich kann es noch. Peter Pan und Winnetou leben. Wie sehr ich dieses Spiel vermisst habe, wird mir erst jetzt richtig bewusst. Mit steigender Begeisterung befreie ich das Theater von seiner Staubschicht, bis es vor Glanz erstrahlt. Fröhlich blicke ich mich um. Auf den ersten Blick sieht es ziemlich unspektakulär aus: ein Zuschauerraum, eine Bühne aus Holz mit einem purpurroten Vorhang. Die Wand der Bühne, die wohl das Bühnenbild darstellen soll, ist dunkel und leer. Über der Bühne hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Mein Marionettentheater“. Etwas fantastischer habe ich mir das schon vorgestellt. Ein wenig enttäuscht von der Einfachheit meines Theaters frage ich mich, ob es hier auch Marionetten gibt. Kaum zu Ende gedacht, färbt sich die dunkle und leere Wand in ein strahlendes Weiß und der Raum erwacht zum Leben. Staunend beobachte ich, wie Marionetten von oben auf die Holzbretter gleiten und beginnen ein Stück aufzuführen. Es sieht fantastisch aus. Welches Schauspiel sie darstellen, kann ich nicht erkennen, doch ich spüre die Begeisterung und Leidenschaft, mit der die Marionetten ihr Spiel vortragen. Sie spielen so virtuos und perfekt, mit vollendeter Hingabe, dass ich mich in ihrem Anblick verliere. Plötzlich beenden sie ihr Spiel und stellen sich nebeneinander auf. Nacheinander zieht jede der Marionetten eine Karte aus ihrer Kleidung hervor und hält sie mir entgegen. Stolz schauen sie mich an. Ihre Karten scheinen beschriftet zu sein. Mit zugekniffenen Augen versuche ich die Buchstaben zu entziffern, doch die Karten sind zu weit weg. Ich beginne die Marionetten zu zählen. Zwölf Augenpaare blicken mich herausfordernd an, als wollten sie sagen: „Komm, trau dich und spiele mit uns!“ Wie sie so erhobenen Hauptes und prachtvoll gekleidet auf der Bühne stehen, wirken sie sehr mächtig auf mich. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Die Vorstellung, mit zwölf Marionetten gleichzeitig zu spielen, überfordert mich, doch vielleicht ist es möglich, jede einzeln kennenzulernen. Beeindruckt schaue ich mir jede Marionette genau an. Sie scheinen meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen. Ich beschließe, mir Zeit zu nehmen und mich jeder Marionette einzeln zu widmen. Als mein Beschluss feststeht, verneigen sich die Marionetten vor mir, stecken ihre Karten zurück in ihre Kleidung und verlassen die Bühne. Die Wand wird dunkel und Stille umfängt mich.
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