Denn Schülerinnen und Schülern, die nur schwache Leistungen zeigen und demzufolge keine positive Leistungsverstärkung erleben, kann innerhalb der Gruppe der Gesichtsverlust oder gar ein sozialer Ausschluss drohen. Er ist in Zeiten von Social Media, wo die (positive) Selbstdarstellung zentral und ein negatives Feedback weitreichend und für immer dokumentiert ist, eine besonders große Bedrohung. Diesen Gesichtsverlust müssen die Schülerinnen und Schüler daher unbedingt vermeiden. Umso wichtiger wird die um Anerkennung heischende Performance. Wenn sich diese nicht in der Leistung zeigen kann, dann eben in einem Verhalten, das auf sich aufmerksam macht. Auch eine demonstrativ zur Schau getragene Gleichgültigkeit kann solch eine Vermeidungsstrategie sein.
Ein gezielter Aufbau der exekutiven Funktionen und eine Unterstützung der Selbstregulation gerade bei Lernprozessen können solche Versagensängste abfedern, Struktur in den Lernprozess bringen und Lernerfolg erlebbar machen. Ein solches Training wird von der Lehrkraft im Sinne des Angebots-Nutzungs-Modells als Angebot gestaltet, damit die Schülerinnen und Schüler es im Rahmen des Unterrichts nutzen können. Dafür wollen wir im Folgenden Anregungen bieten.
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SELBSTREGULATION UND EXEKUTIVE FUNKTIONEN |
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ANKERPLATZ |
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Voraussetzung für selbstregulierte Handlungsprozesse sind die im Frontallappen des Hirns angesiedelten exekutiven Funktionen. Gleichzeitig werden diese Funktionen während der einzelnen Phasen der Selbstregulation auch trainiert. Durch gezielte Reize wie Bewegung, Reflexion oder bestimmte Strategieanwendungen werden Aufbau, Wachstum und Vernetzung der fraglichen Nervenzellen stimuliert. Weil viele Kinder und Jugendliche in der Freizeit nicht (mehr) ausreichend Stimuli erfahren, ist ein Training im Unterricht von umso größerer Notwendigkeit. Es hilft ihnen, ihre schulische Hauptaufgabe – das Lernen – erfolgreich zu meistern. Maßgebend für die Umsetzung eines solchen Angebots und einer darauf abgestimmten Klassenführung ist die willentliche Entscheidung der Lehrperson, die Entwicklung der eigenen Schülerinnen und Schülern zu mündigen, also motivierten, zielgerichteten, handlungsorientierten und reflektierten Menschen zu unterstützen. |
2.4Die Seekarte – Dimensionen und Bereiche der Klassenführung auf einen Blick
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ORIENTIERUNGSPUNKTE FÜR DIE REISE |
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Übersicht zur komplexen Tiefenstruktur «Klassenführung» – Eltern im Kontext – Geteilte Verantwortung im Unterrichtsgeschehen – Werte und Führungsrolle der Lehrkraft – Gestaltungsmacht der Lehrkraft – Proaktive und reaktive Verhaltenskontrolle – Selbstregulation als Bezugspunkt |
Handlungsempfehlungen durch Kolleginnen und Kollegen oder durch Bücher allein reichen nicht aus, um eine gute eigene Klassenführung aufzubauen – allein schon deshalb nicht, weil es sehr unterschiedliche Konzepte und Ideen von Klassenführung gibt. [47]Meist liegt der Fokus auf Störungen oder der Klarheit und Reibungslosigkeit des Stundenablaufes oder auf Themen wie Feedback, Differenzierung oder der Lehrer-Schüler-Beziehung. Uns ist jedoch die Komplexität der Klassenführung im Zusammenwirken mit den anderen Tiefenstrukturen wichtig sowie ihre Einbettung in den gesamten Unterrichtskontext und natürlich die Orientierung darin. Die diesem Buch – und, wenn Sie wollen, künftig Ihrem Unterricht – zugrunde liegende Seekarte bietet eine Übersicht über die Dimensionen der Klassenführung und ihre Aktionsbereiche, in denen Sie als Lehrkraft unterstützend auf die Selbstregulation jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers einwirken können. [48]Studieren Sie die Karte, bevor Sie die Segel setzen, und nehmen Sie sie mit auf die Reise durch den Unterricht. Damit behalten Sie die Orientierung. Die Karte findet sich in größerem Format auf der vorderen Umschlagseite des Buches.
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SEEKARTE |
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Das Unterrichtsgeschehen findet immer in einem bestimmten Kontext statt (Systemumfeld der Schule, Schülerklientel usw.), der natürlich prägend wirkt. Eltern sind ebenfalls prägend, für die Kinder und Jugendlichen wie auch für die Lehrkräfte. Daher ist es hilfreich, sie durch Informationen und eine gestaltete Kommunikation einzubinden, obwohl sie am Unterrichtsgeschehen ja kaum direkt beteiligt sind (siehe Abschnitt 4.6).
Geteilte Verantwortung im Unterrichtsgeschehen
Eine wirksame Klassenführung führt zu einer lernförderlichen Atmosphäre und möglichst viel effektiver Lernzeit. Dafür stehen – natürlich auf unterschiedliche Weise – zwei Personengruppen in der Verantwortung: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler. Damit beide Gruppen im Unterricht jeweils aus dieser Verantwortung heraus handeln können, braucht es vertiefende Klärungen zum eigenen Führungsverständnis und eine Befähigung der Schülerinnen und Schüler durch die Unterstützung ihrer Selbstregulation.
Werte und Führungsrolle der Lehrkraft
Vorab rückt die Lehrkraft in ihrer Persönlichkeit und Haltung in den Vordergrund. Eine Haltung erwächst durch die Reflexion über Werte und über die eigene Führungsrolle. Hier stellen sich folgende Fragen:
•Welche Werte leiten die einzelne Lehrkraft in ihrem unterrichtlichen Handeln, und welche Vorstellung von Klassenführung und Unterricht ergibt sich daraus für sie? Welches Bild aus der Vergangenheit prägt sie bezüglich selbst erlebter Muster von Klassenführung, auf das sie unter Stress gegebenenfalls zurückgreift? Welches Menschenbild vertritt sie? Welche Handlungswünsche leitet sie daraus ab – an sich selbst und an ihre Schülerinnen und Schüler? Welche Regeln und Routinen leitet sie daraus ab?
•Wie bringt die Lehrkraft Verantwortung, Empathie, Respekt, Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz ins Klassenzimmer? Können die Schülerinnen und Schüler zu ihr Vertrauen fassen?
•Wie definiert die einzelne Lehrkraft ihre Führungsrolle, wie setzt sie diese im Klassenzimmer um?
•Welche Techniken der Klassenführung setzt sie ein?
•Welche Art der Gesprächsführung prägt die einzelne Lehrkraft?
•Wie reflektiert die Lehrkraft ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung? Ist sie bereit, sich und ihren Unterricht zu reflektieren? Mit wem tut sie dies? Holt sie sich in der Klasse oder von einzelnen Kolleginnen und Kollegen ein Feedback und leitet transparent und sichtbar Maßnahmen daraus ab?
In Kapitel 3mit den Abschnitten 3.1bis 3.5haben Sie ausführlich Gelegenheit zur Selbst-Reflexion in Bezug auf diese Fragen. Selbst-Reflexion schafft Selbst-Bewusstheit.
Gestaltungsmacht der Lehrkraft
Eine selbst-bewusste Lehrkraft kann in ihrem Handeln wählen und ist keiner Situation ausgeliefert. Sie kann wählen, durch welche Möglichkeiten der Beziehungs- und Unterrichtsgestaltung sie präventiv Lernangebote bietet und wann sie auf der Verhaltensebene kontrollierend eingreift. In dieser Bandbreite ist es der Lehrkraft möglich, im Klassenzimmer aktiv zu sein. Präventives Gestalten auf der Beziehungs- und Unterrichtsebene führt zu Angeboten an die Schülerinnen und Schüler, die diese verantwortungsvoll nutzen können. Wer über Angebote nachdenkt, muss nicht stören, sondern kann sich in das Geschehen konstruktiv einbringen und zum Gelingen beitragen. Kinder und Jugendliche zeigen «störendes» Verhalten vor allem dann, wenn sie sich selbst nicht wahrgenommen fühlen, keinen Anschluss an das Unterrichtsgeschehen finden und permanent ermahnt statt unterstützt werden. Wer erleben darf, dass auf die eigenen Bedürfnisse eingegangen wird, der kann auch die Bedürfnisse der anderen respektieren, wird davon weniger absorbiert und arbeitet konzentrierter: So entsteht Arbeitsfähigkeit. Die Lehrkraft gewinnt durch ihre präventive Gestaltung auf der Beziehungs- und Unterrichtsebene in den Aktionsbereichen Gruppe, Raum und Lernsituation ( Abschnitt 3.6) mehr Zeit und Energie für die Unterstützung der selbstregulierten Lernprozesse und den Aufbau exekutiver Funktionen.
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