Aus heutiger Perspektive vielleicht eher überraschend sind die Vorschläge, welche die Kommission zur curricularen Umsetzung ihrer Empfehlungen formulierte. Sie erklärte nämlich, dass nicht nur der Unterricht in Mathematik oder Philosophie die geforderten rationalen Kräfte verbessere (ebd., 17), sondern auch verschiedene Erfahrungen in eher als «geisteswissenschaftlich», «schöngeistig» oder «ästhetisch» zu bezeichnenden Fächern. «Music, for example, challenges the listener to perceive elements of form within the abstract. Similarly, vocational subjects may engage the rational powers of pupils» (ebd., 18). Grundsätzlich sei es das Ziel von Schule, bei den Schülern den Wunsch nach sowie den Respekt vor Wissen zu wecken und sie zur Antwort auf die Frage zu befähigen, wie sie wissen, aber auch was sie wissen (ebd., 19). Damit wird Schule als Ort bestimmt, an dem wissenschaftliches oder zumindest an den Wissenschaften orientiertes Wissen und ein forschender Zugang zur Welt zu vermitteln ist, wobei die Entwicklung der rationalen Kräfte den Schüler auch befähigt, «to use his mind to make of himself a good citizen and contributing person». Oder anders formuliert: «The school should encourage the student to live the life of dignity which rationality fosters» (ebd., 20).
Diese Organisation und inhaltliche Ausrichtung von Schule, wie sie sich als Folge der Progressive Education , der amerikanischen Form der Reformpädagogik mit ihrer starken Betonung des Learning by Doing, entwickelt hatte und unter dem Namen life adjustment movement bekannt geworden ist, rief Kritik sowohl vonseiten der liberalen Intellektuellen als auch vonseiten der strengen Antikommunisten und der traditionellen Konservativen hervor (Kliebard 2002, 106–108; Hartman 2008). Die Hauptkritik richtete sich gegen die Überzeugung, Schule habe ihre Schüler zwar auf die Arbeitswelt vorzubereiten, sie aber auch in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden zu fördern. Die damit verbundene antiintellektuelle Tendenz konnte sehr einfach mit den didaktischen Reformen der Progressive Education in Verbindung gebracht werden, während die geforderte Curriculumreform die Stärkung der traditionellen akademischen Fächer bzw. die Rückkehr zu ihnen zum Ziel hatte.
Der später als solcher bezeichnete «Sputnikschock», das heisst die kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Reaktionen in den USA auf den 1957 erfolgten Start des ersten künstlichen Erdsatelliten ins All durch die Sowjetunion, unterstützte diese Kritik. Die Niederlage im globalen Wettkampf um die Vorherrschaft im Weltall wurde der mangelnden Qualität der naturwissenschaftlichen Ausbildung in den Schulen angelastet, weshalb eine Reform des Curriculums[9] mit Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Fächern notwendig erschien (Kliebard 2002, 58–59).[10] Ziel des Unterrichts sollte die Vermittlung von zu Handlung befähigendem Wissen sein, mit dessen Hilfe der Wettlauf der beiden auf geopolitische Dominanz ausgerichteten Systeme gewonnen werden konnte. Ziel war also nicht der sich kompetent selbst verwirklichende Bürger des life adjustment movement .
Diese Unterscheidung von handlungsleitendem Wissen, das für den geopolitischen Wettlauf hilfreich war, und einer kompetenten Lebensführung, die das individuelle Wohlbefinden zum Ziel hatte, wurde in der theoretischen Konzeptualisierung der international vergleichenden Schulleistungsstudien, die im Kontext des Kalten Krieges entstanden waren, nicht übernommen – im Gegenteil. Eine vergleichende Perspektive war nicht mit Testaufgaben möglich, die Wissen voraussetzten, das von den jeweiligen nationalen Lehrplänen abhängig war, sondern nur durch von konkretem Wissen unabhängige Testaufgaben. Statt also «totes Wissen» abzufragen, wurde auf das Konzept der Kompetenz rekurriert, mit dessen Hilfe Wissen getestet werden konnte, das für die Zukunft der Schüler als relevant galt, wobei diese Relevanz als vergleichbar beurteilt wurde (Tröhler im Druck).[11]
3 Kompetenz als Schlüsselqualifikation und lebenslanges Lernen
Für die Verwendung und Weiterentwicklung des Kompetenzbegriffs im deutschsprachigen Raum war Noam Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz bedeutsam, wie sie in der pädagogisch-psychologischen Debatte rezipiert wurde (Kobelt 2008, 10) und, zur «kommunikativen Kompetenz»[12] weiterentwickelt, auch in den Sozialwissenschaften Fuss fassen konnte (Grunert 2012, 54). Chomsky hatte 1965 in «Aspects of the Theory of Syntax», die 1969 unter dem Titel «Aspekte der Syntax-Theorie» in einer deutschen Übersetzung erschienen waren, (Sprach-)Kompetenz als «Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache» und Performanz als den «aktuellen Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen» bestimmt (Chomsky 1972, 14). Der Mensch besitze ein angeborenes oder intuitives Muster der Spracherkennung, eine innere Sprachkompetenz, die durch die Sprechhandlung erst sichtbar werde und als das Resultat der Kompetenz zu sehen sei (Vonken 2005, 20). In seiner Theorie geht Chomsky von einer «idealen» Sprechsituation aus, das heisst von einer Situation, in welcher der Sprecher-Hörer von keinen Kontextfaktoren beeinflusst wird und nicht beeinflussbar ist. Er argumentiert damit nicht mit empirischen oder historischen Erfahrungen, sondern konstruiert seine Unterscheidungen und Argumente auf einer rein rationalen, von der Vernunft bestimmten Ebene (Chomsky 1972, 13). Die rational bestimmte Trennung von Kompetenz und Performanz ist denn auch in ihrem Modellcharakter zu verstehen.[13]
In der deutschsprachigen Pädagogik wurde das Konzept der Kompetenz vor allem durch Heinrich Roth (1906–1983) wirkmächtig vertreten. Im ersten Band seiner zweibändigen «Pädagogischen Anthropologie» hatte sich Roth mit der Frage nach der Bildsamkeit und der Bestimmung des Menschen und damit mit normativen Fragen der Erziehung beschäftigt, wodurch er zeigen wollte, «warum diese Leerformeln [Erziehungsziele wie Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Kreativität, Emanzipation] […] zur langfristigen Orientierung unverzichtbar sind» (Roth 1971, 14). Mit dem zweiten Band rekonstruierte Roth die entwicklungspsychologischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft und wandte sich damit wieder den sogenannt empirischen Fragen zu.
Auch wenn Roth Erziehungsziele als «Leerformeln» bezeichnete, haben diese seines Erachtens trotzdem das Potenzial, ja sogar die Pflicht, Ziele für empirische Entwicklungsprozesse vorzugeben (ebd., 179). Konkret ging es ihm darum, die neue psychologische Überzeugung, Entwicklung als Lern- und nicht als Reifeprozess[14] zu verstehen, auf ihre Bedeutung für die Pädagogik hin zu untersuchen. Dabei spielte Mündigkeit als «Zieldimension von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die er auf Seiten des Subjekts als entwickelte Handlungskompetenz versteht» eine zentrale Rolle (Grunert 2012, 47). Eine so verstandene Mündigkeit betreffe die «seelische Verfassung einer Person, bei der die Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung abgelöst ist». Sämtliche erzieherischen Massnahmen haben sich demzufolge an der Förderung der Selbstbestimmung zu orientieren, wobei diese als «Kompetenz» im dreifachen Sinn definiert wird: als «Selbstkompetenz», «Sachkompetenz» und «Sozialkompetenz» (Roth 1971, 180). Der von Roth gebrauchte Kompetenzbegriff ist damit kein Begriff, der Handlungen oder Umsetzungen bezeichnet, sondern er befasst sich mit den Bedingungen mündigen, moralischen und selbstbestimmten Handelns.[15]
Seit den 1970er-Jahren wurde der Kompetenzbegriff vermehrt in der Berufs- und Erwachsenenpädagogik sowie in der Weiterbildung verwendet, wobei teilweise auch der Begriff «Schlüsselqualifikationen» gebraucht wurde. Auf der theoretischen Seite wurde mit dem Konzept der Schlüsselqualifikationen versucht, die traditionelle Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung aufzuheben bzw. die beiden Bereiche enger miteinander zu verknüpfen. Damit sollte aber auch die fachliche Qualifikation gewährleistet werden, ohne dass diese eng an bestimmte Handlungsabläufe oder Kenntnisse geknüpft werden musste, die in einer sich schnell wandelnden beruflichen Umgebung nur kurze Zeit Gültigkeit beanspruchen konnten (Tippelt 2002, 50–51). Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft seit den 1980er-Jahren und die damit verbundenen Umstrukturierungen der Arbeitswelt und der beruflichen Tätigkeiten machten das Konzept der Schlüsselqualifikationen auch für die bildungspolitische Diskussion interessant. In diesem Kontext wurde auch das Schlagwort vom «lebenslangen Lernen» geprägt.[16] Gerade in der Berufsbildung war damit die Überzeugung verbunden, dass nicht länger «Qualifikationen», verstanden als Wissen und Fähigkeiten, die im Idealfall für ein ganzes Berufsleben ausreichten, zur Lösung einer bestimmten Aufgabe zu erwerben waren, sondern «Kompetenzen», welche die Basis für eine ständige Weiterentwicklung bilden sollten und die flexibel auf neue Aufgabenstellungen angewendet werden konnten (Kobelt 2008, 15–16).
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