«[…] so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grund, der empirisch gegeben ist, nach […], sondern macht mit völliger Spontaneität[22] eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpasst […].» (Kant 1787, Kapitel 109)
Dies bedeutet, weiter ausgeführt:
«Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung [d.h. mit dem rohen Stoff sinnlicher Eindrücke; M. B.] anfange, daran ist gar kein Zweifel […]. Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an […]. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum noch nicht eben aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen [durch sinnliche Eindrücke bloss veranlasst; M. B.] aus sich selbst hergibt.» (Kant 1787, Kapitel 6)
Mit heutiger Sprache gesprochen: Die Bedeutung, die den in den Sinneskanälen einkommenden Daten zugeordnet wird, ist nicht an sich gegeben, sondern wird von der wahrnehmenden Person in Abhängigkeit von ihren kognitiven und wissensmässigen Voraussetzungen festgelegt. So etwa sieht ein Experte in einem Gegenstand mehr, anderes, Differenzierteres, Tieferes, Präziseres. Mit Kant gesprochen: «Wir erkennen von den Dingen a priori nur das, was wir selbst in sie hineingelegt haben» (Kant 1787, Prolegomena). In der Folge ist jeder nachfolgende Wissensaufbau, der auf den eigenaktiv von der Person konstruierten Bedeutungen basiert, ein weiterer eigenaktiver Konstruktionsprozess. Zum Wissen wird die Erkenntnis, wenn sie unabhängig vom erkennenden Subjekt gültig ist.
Kants Erkenntnistheorie aufnehmend, zeigte Piaget in seiner als genetischer Konstruktivismus bezeichneten Theorie auf, wie die Wissens- und Handlungsstrukturen des Menschen das Ergebnis eines vom Individuum selber ausgeführten, zunehmend verinnerlichten und systematisierenden kognitiven Prozesses sind. Entwicklungspsychologisch gesehen, beginnt dieser mit den angeborenen Reflexen (analog zu Kants angeborenen a priori ) und entwickelt sich über das präoperationale, das sensomotorische und das konkret-operatorische zum formal-operatorischen Denken des jungen Erwachsenen (Piaget 1973; 1974a; 1974b). Erworbene Begriffe, Konzepte, Theorien, Auffassungen und mentale Vorstellungen werden zu Instrumenten des Denkens, die analog zu Kants a priori die Erfahrung der Welt ordnen.
Wissen wird durch Assimilation erworben – denjenigen Prozess, durch welchen jeder Mensch die Gegebenheiten der Welt mental nachbaut und neue Wissens- und Handlungsstrukturen in seine schon bestehenden Wissens- und Handlungsstrukturen integriert. Gelingt die Assimilation nicht, weil die passenden Assimilationsschemata (das Wissen und Können) fehlen, ist deren Akkommodation erforderlich, die Anpassung vorhandener Wissens- und Handlungsstrukturen an die Erfordernisse, welche die zu assimilierende Gegebenheit der Welt an das assimilierende Subjekt stellt. Durch die Akkommodation werden neue Assimilationsschemata verfügbar als Voraussetzung für Assimilation. Äquilibration (Gleichgewicht) zwischen Assimilation und Akkommodation besteht immer dann, wenn es gelingt, die Gegebenheiten der Welt mit den verfügbaren Wissens- und Handlungsschemata zu erfassen. Gelingt dies nicht, besteht ein Disäquilibrium, und dieses Ungleichgewicht ist als kognitiver Konflikt für das Subjekt Anlass, vorhandene Wissens- und Handlungsstrukturen so zu verändern (und damit zu lernen), dass die Gegebenheit der Welt assimilierbar wird (Piaget 1973; 1974a; 1974b).
Dass jeder sein Weltbild aufbauen – (nach-)konstruieren – muss, meint zusammenfassend also, dass die Bedeutung, die den über die Sinneskanäle einkommenden Daten zugeordnet wird, nicht an sich gegeben ist, sondern von der wahrnehmenden Person in Abhängigkeit von ihren kognitiven (auf Vorkenntnissen beruhenden) Voraussetzungen konstruiert wird und dass jeder weitere Erkenntniserwerb ein weiterer aktiver Konstruktionsprozess ist. Selbst radikale Konstruktivisten wie z.B. von Glasersfeld (1996) und Maturana und Varela (1987) stellen nicht in Abrede – wie oft unterstellt wird –, dass es eine «objektive Realität» gebe, weil jeder sein eigenes, subjektives Weltbild aufbaut. 2+2 sind (im dekadischen System) für alle = 4 und nicht = 5. Lernen setzt vielmehr bei jedem Individuum mentale Aktivitäten voraus, durch welche es seine (neuen) Wissens- und Handlungsstrukturen aufbaut bzw. bestehende differenziert und präzisiert (Renkl 2008, 109–153). Jeder, der lernt, muss den Lerngegenstand individuell (= eigenaktiv) mental erfassen, dessen «Sachverhältnisse» für sich nach-konstruieren (Piagets « mise en relation »), um ihn assimilieren zu können. So muss beispielsweise jede/r selber in-Beziehung-setzend nachvollziehen, dass und warum 2+2 nicht = 5 sind, sondern = 4. Hans Aebli (1923–1990), ursprünglich Zürcher Volksschullehrer und Schüler Piagets, hat diesen Gedanken in seiner als Dissertation bei Piaget entstandenen psychologischen Didaktik als einer der Ersten für den Unterricht didaktisch nutzbar gemacht (Aebli 1951; z.B. Baer et al. 2006).
Nach den Angebots-Nutzungs-Modellen des Unterrichts (Fend 1981; Helmke 2012, 71; Reusser u. Pauli 2010, 18) geht es im Unterricht darum, Lernangebote bereitzustellen, welche die Lernenden kognitiv und motivational-emotional je (möglichst) günstig herausfordern, damit sie alle entsprechend ihren heterogenen Voraussetzungen individuell die erforderlichen mentalen Prozesse vollziehen und so das Lernangebot nutzen können. Je adaptiver das Angebot ist, desto besser ist der individuelle Lernerfolg (Beck et al. 2008; Rogalla u. Vogt 2008; Brühwiler 2014). Für den motivational-emotionalen Aspekt des Lernangebots gilt, dass Lernende das Angebot auch nützen wollen müssen: Lernen setzt die Bereitschaft voraus, sich auf das Lernangebot einzulassen. Oft vorerst volitional veranlasst («Ich will mich mit der Sache auseinandersetzen.»), wird es motivational-emotional in der Regel zunehmend einfacher, (weiter-) zu lernen.
Wie eigenständig oder wie angeleitet das Lernen erfolgt und damit wie ausgeprägt seine (fach-)didaktische Steuerung durch die Lehrperson ist, kann variieren. Bei einem Lehrervortrag oder einem Unterrichtsgespräch etwa ist die Steuerung der Lehrperson gross. Sollen Lernende dagegen fähig werden, (möglichst) eigenständig zu lernen, müssen sie Gelegenheit haben, nicht nur eigenaktiv die mentalen Konstruktionsprozesse zu vollziehen, sondern sich auch selber zu ihrem Vollzug anzuleiten, das heisst, das eigene Lernen (weitgehend) selber zu steuern. Sicher ist, dass die Steuerung des eigenen Lernens nicht einfach den Schülerinnen und Schülern überlassen werden kann. Gerade schwächere Lernende wären rasch und mit erheblichem Nachteil für ihren Lernerfolg überfordert.
Wie eigenständiges Lernen, wie der Erwerb von metakognitivem Wissen als Voraussetzung dafür – ohne Einbusse beim fachlichen Lernen – im Unterricht gefördert werden kann, wurde in einem Nationalfondsprojekt der Pädagogischen Hochschule St. Gallen bereits vor geraumer Zeit praxisnah untersucht (z.B. Beck, Guldimann u. Zutavern 1991). Ziel des kompetenzorientierten Unterrichts nach Lehrplan 21 ist es, vom vorherrschenden lehrerzentrierten, fragend-entwickelnden Klassenunterricht wegzukommen; hin zum adaptiven, problemlösenden, lernprozessbezogenen eigenständigen oder eigenständig-kooperativen und damit schülerzentrierten Unterricht, durch den Kompetenzen erworben werden. Da Lernen kognitive Eigentätigkeit erfordert, will der kompetenzorientierte Unterricht sowohl die Verantwortung der Lernenden für ihr Lernen (ihre Nutzung des Lernangebots) als auch die Fähigkeit für kooperatives Lernen fördern bzw. stärken. Darum sollen gemäss Lehrplan 21 die Lernenden auch überfachlich kompetent werden. Wie dies alles auf wissenschaftlicher Grundlage praxistauglich und mit guter Unterrichtsqualität gestaltbar ist, wird in einem aktuellen Nationalfondsprojekt untersucht (Baer et al. 2014).
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