–Auch bei der Benotung und ihren Folgen fordern die Expertinnen und Experten einen Sonderweg im kommenden Jahr: «Übergangsentscheidungen und die Vergabe von Abschlüssen sollten soweit möglich von Zensuren entkoppelt und auf das klassische Sitzenbleiben verzichtet werden», heißt es in der Studie.
Die Vorschläge erfordern, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, viel Mut auf Seiten der Bildungspolitik. Bei vielen Fachleuten allerdings stoßen sie auf überwiegend positive Resonanz. Denn die Corona-Krise wird von Schulakteurinnen und -akteuren auch als Chance begriffen: als Chance zum Umbau bisher verkrusteter Strukturen, als Möglichkeit zum Ausprobieren neuer Lernwege, als Anstoß zum Denken bisher ungedachter Möglichkeiten.
Die Autorinnen und Autoren, die innerhalb weniger Tage und Wochen ihre Beiträge zu diesem Sammelband erstellt haben, wollen zu diesem Umdenken ermutigen: Schule kann und darf nicht einfach wieder zurückfallen in den früheren Modus, sondern sollte den Schwung nutzen, der vielerorts gerade zu spüren ist; und sie sollte da, wo in den vergangenen Wochen und Monaten schwierige oder gar schmerzhafte Erfahrungen gemacht wurden, Lernbereitschaft zeigen und Neues wagen. Allerdings: Das eine Rezept, nach dem überall in Deutschland, der Schweiz und Österreich ab sofort der perfekte Unterricht gemacht werden kann, gibt es nicht. Die Anregungen sind so vielfältig wie die Autorinnen und Autoren, und so finden Sie in diesem Band wissenschaftliche Studien ebenso wie Essays, konkrete Handlungshinweise ebenso wie persönliche Erfahrungsberichte. Wir haben versucht, diese Vielfalt der Stile und Vorlieben so weit wie möglich beizubehalten.
Allen, die mit ihren Gedanken und Ideen dieses Buch bereichern, sind wir zu großem Dank verpflichtet – für die unkomplizierte und schnelle Zusammenarbeit, vor allem aber für die zahlreichen pädagogischen, strukturellen und politischen Anregungen, die das Buch für Sie als Leserinnen und Leser hoffentlich genauso interessant und spannend machen wie für uns als Herausgebende. Lassen Sie sich inspirieren – und nutzen Sie den Schwung für Veränderungen in Ihrer Schule und im gesamten Bildungssystem, wo sie nötig sind!
Julia Egbers, Armin Himmelrath
Cuxhaven/Köln, im Juli 2020
Gesellschaftlich-psychologische Ebene
Sozialisation in Krisenzeiten − der Lockdown offenbart die Defizite des deutschen Schulsystems
Ullrich Bauer und Klaus Hurrelmann
Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen verändern sich durch die Corona-Pandemie. Für die Mehrzahl von ihnen verschlechtern sich hierdurch die Bedingungen. Die Sozialisation in der Familie hat an Zeit und an Bedeutung gewonnen, diejenige in der Schule deutlich verloren. Die Kooperation zwischen diesen beiden wichtigen Erziehungsinstanzen erweist sich zugleich als gestört. Sowohl die Eltern als auch die Lehrerinnen und Lehrer sind auf die neuen Herausforderungen schlecht vorbereitet. Kinder und Jugendliche sind die eigentlichen Leidtragenden dieser Entwicklung.
Wie alle vorherigen legt auch die Corona-Krise Konflikte und Defizite frei, die in normalen Zeiten verborgen bleiben. Wir gehen in diesem Beitrag von der These aus, dass das auch im Bereich von Bildung und Sozialisation gilt. Wir greifen drei besonders gravierende Probleme heraus: die unsensible politische Steuerung des Bildungssystems, die mangelnde Entfaltung der digitalen Komponente des Lernens und die unzureichende Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Zugleich zeigen wir, wie sich aus dem Offenbarwerden dieser Probleme die Chance ergibt, überfällige Reformen anzustoßen.
1Gravierende Defizite des deutschen Schulsystems kommen ans Tageslicht
Noch gibt es sehr wenige Forschungserkenntnisse zu den Auswirkungen der mit der Corona-Pandemie einhergehenden Beeinträchtigungen des traditionellen schulischen Betriebs. Das «Deutsche Schulbarometer Spezial» (Robert Bosch Stiftung 2020), das «Schulbarometer» der Pädagogischen Hochschule Zug (Huber 2020) und die Analysen des «Forschungsverbundes Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit» (2020a und 2020b) erfassen erste Einschätzungen zu Fernunterricht und zur Wahrnehmung durch die Lehrkräfte und analysieren die Auswirkungen auf die Interaktion von Elternhaus und Schule. Alle Studien weisen auf eine große Belastung der Eltern, vor allem der Mütter hin, die durch die Schulschließungen, teilweise Neuöffnungen und die improvisierte Umstellung auf Fernunterricht entstanden sind.
Für eine sozialisationstheoretische Perspektive (Hurrelmann/Bauer 2019) sind diese Erkenntnisse zentral. Sie verweisen auf die direkte Sozialisationsrelevanz der pandemischen Bedingungen der vergangenen Monate. Sie fokussieren auf die Verarbeitungsfähigkeit junger Menschen, ihre Verwundbarkeit und die Rolle verfügbarer Ressourcen. Der sozialisationstheoretische Ansatz betrachtet zudem die Rolle der medialen Krisendarstellung, der Betroffenheit unmittelbarer Nahsysteme wie der Familie und natürlich der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als Sozialisationsagenturen. Die Schule ist in dieser Hinsicht intermediär. Sie stellt einen Nahraum der sozialisatorischen Interaktion dar, ist aber gleichzeitig abhängig von der Einbettung in ein Institutionengefüge der rechtlichen Regelungen, unterschiedlicher Handlungskulturen und politischer Steuerung.
In Deutschland ist das Bildungssystem im Vergleich zu anderen Ländern unterfinanziert. Auf den Spuren eines konservativen wohlfahrtsstaatlichen Modells wird der Familie eine größere Bedeutung für die Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen zugeschrieben als den öffentlichen Bildungseinrichtungen. In den zurückliegenden 20 Jahren hatte sich die Politik nur zögernd von diesen Denkgewohnheiten getrennt und unter dem Eindruck des schlechten Abschneidens bei den international vergleichenden Leistungsstudien (Baumert et al. 2002) und dem Druck der Anforderungen vieler Berufs- und Erwerbszweige die Rolle des Bildungssystems gestärkt.
In der Pandemiezeit kommt es nun zu einem Rückfall in alte Zeiten, es wird gewissermaßen ein vertrautes Muster re-aktiviert, denn es kommt zu einer Rückverlagerung von Bildungsverantwortlichkeit in die Familien. Auf diese Weise kommen viele der ungelösten Probleme ans Tageslicht.
” Es offenbart sich, wie wenig nachhaltig die Strukturreformen der Organisation des Schulsystems waren, wie sehr die digitale Modernisierung des Unterrichts verschleppt wurde und wie wenig institutionell verankert die familienunterstützende Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher bis heute ist.
1.1Die politische Steuerung des Schulsystems ist nicht bedarfsorientiert
Es ist ein wesentliches Defizit in der Debatte über Verantwortung und Steuerung, dass Akteure im Bildungsbereich keine Instrumente entwickelt haben, um Basiswissen zu der Krisensituation in den Schulen zu sammeln. Einzelbefunde auf Schulebene werden nirgendwo zusammengeführt, von der Sammlung von Ideen und dem Austausch auf Bezirks-, Schul- oder kollegialer Ebene ist kaum zu sprechen. Leuchttürme und gut funktionierende Infrastrukturen an wenigen Schulen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit orientierungslos ist.
Wenn Schulleitungen nicht beherzt zugreifen und nicht schon vor der Corona-Krise darin erprobt waren, solitär und kreativ Lösungen zu finden, direkte Wege zu Bezirks- und Landesregierungen oder nach innen gut organisiert Schulentwicklung zu betreiben, dann erwies sich der Lockdown durch die gesellschaftsweiten Kontaktbeschränkungen als ein Knockout für die Schulen.
Es existieren nicht wenige Berichte über Schulen, die jetzt noch in einem Lähmungszustand sind: Es sind Schulen, die nicht in der Lage sind, ihre Kollegien an den Schulen zu koordinieren, verlässliche Kommunikationsstrukturen aufzubauen, Eltern einzubinden, Unterrichtsformate zu erproben, zu entwickeln und darüber Austausch zu initiieren. Es sind Schulen, die noch immer keine E-Mail-Adressen ihrer Schülerinnen und Schüler haben und nicht einmal über einen Verteiler ihres eigenen Kollegiums verfügen. Die Missstände sind eklatant: Einige Lehrkräfte melden sich nie bei ihren Schülerinnen und Schülern, viele selten; Rückmeldungen zu Aufgaben werden nicht gegeben; Kommunikationsstrukturen sind intransparent; die Eltern wissen nicht, womit sie von Woche zu Wochen rechnen können. Es gibt Schulen, an denen weniger als fünf Prozent der Lehrkräfte digitalen Unterricht durchführen.
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