Omar Khir Alanam - Danke

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Nach drei Jahren in Österreich spricht er so gut Deutsch, dass er an Poetry-Slams teilnehmen kann, er macht eine Ausbildung und lebt mit seiner Freundin in einer kleinen Wohnung in Graz. Sein entwaffnendes «Danke» lässt alle Beteiligten an der hitzigen Diskussion um Zuwanderung für einen Moment verstummen.

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Omar Khir Alanam

Omar Khir Alanam:

Danke!

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 edition a, Wien

www.edition-a.at

Redaktion und Lektorat: Thomas Schrems

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-290-1

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Für meine Mutter und alle lächelnden

Gesichter, die mir begegnet sind

Sieben

Jeder Mensch hat so seine Zahlen. Zahlen, denen er lieber aus dem Weg geht. Und Zahlen, die er liebt. Seine Zahlen.

Vielleicht liebt ein Mensch ja nur eine einzige Zahl. Weil sie von besonderer Bedeutung für ihn ist. Weil sie für einen bestimmten Tag steht. Einen Ort. Einen Freund. Eine Freundin. Für den Beginn einer Telefonnummer. Oder für den Beginn einer Liebe.

Zahlen, habe ich gelernt, sind wie Menschen. Jede einzelne hat eine starke Persönlichkeit. Einen eigenen Charakter. Manchmal jedoch sind Menschen nichts als Zahlen. Bedeutungslos. Beliebig. Nackt. Auch das habe ich gelernt. Schon viel früher. In meiner alten Heimat Syrien.

Meine Zahl ist die Sieben.

Die Sieben hat für mich eine dunkle, sehr dunkle Seite. Bis heute Abend. Zahlen, werde ich heute Abend lernen, sind bunt. Nicht nur schwarz. Oder weiß. Meistens jedoch schwarz. Nein. Sie haben, werde ich lernen, auf jeden Fall auch eine zweite Seite. Wie Münzen. Eine schlechte Seite und eine gute. Aber können Münzen überhaupt gute und schlechte Seiten haben? Alena wird mir später beibringen, dass ich es symbolisch betrachten muss. Weil man in diesem Land und in diesem Fall und in dieser Sprache auch nicht die zwei Seiten einer Münze sagt, sondern: Die Kehrseite der Medaille.

Doch das weiß ich in dem Augenblick noch nicht, als ich die Bühne betrete. Ich weiß nur, dass meine Beine wackeln. Und dass es eine Bühne in Graz ist, meiner neuen Heimat. Auf den Tag genau vor zwei Jahren bin ich nach Österreich gekommen. Heute Morgen noch habe ich daran gedacht. Als Ruth und Alena mich angetrieben, mir in diesen Tag geholfen haben. In diesen ganz besonderen Tag.

Zufall? Schicksal? So vieles ist seitdem geschehen. Das alles schwirrt in mir umher. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Sie prallen ab und fliegen weiter. Prallen wieder ab. Fliegen wieder weiter. Außer Kontrolle. Wie Gewehrkugeln. Nein. Die gehören nicht hierher. Es sind doch bloß Gedanken. Aber ich kann sie nicht ordnen. Nicht jetzt. Nicht hier auf der Bühne. Vor mir liegt das Dunkel, und ich weiß nur:

Ich bin die Sieben.

Und ich spüre, als ich stehenbleibe, mich zur Seite drehe, dass ich plötzlich nichts mehr spüre. Dass ich meine Beine nicht mehr spüre. Sie sind taub. Genau wie damals, als ich zum ersten Mal die Sieben war und die Angst meinen Körper beherrscht hat.

Ich stehe jetzt auf der Bühne. Endlich. Aufrecht. Und doch klein. Gebückt. Ich halte einen Text in den Händen. Meinen Text. Sind Texte wie dieser nicht verboten? Meine Finger zittern vor Angst. Aber es ist eine andere Angst. Und wenn ich in das Dunkel vor mir blicke, sehe ich, dass es auch ein anderes Dunkel ist. Ein Dunkel voller Menschen, die es verdienen, Mensch genannt zu werden. Sie sind nicht gekommen, um mich zu erniedrigen. Sie nicht.

Ja, es ist ein Dunkel, das in Wirklichkeit nur aus Licht besteht. Licht, das sich in einem Scheinwerfer sammelt und mir nun ins Gesicht strahlt. Es ist stark. Es blendet. Geitzend, nennt man das, werde ich lernen. Nein. Gleißend. Wieder ein neues Wort. Worte sauge ich auf. Wie ein ausgetrockneter Schwamm jeden einzelnen Tropfen Wasser. Oder das Bilsenkraut oder ein Kapernstrauch oder ein Feigenbaum in der syrischen Wüste. Dabei kenne ich die Wüste kaum. Viel weniger als die meisten hier glauben würden. Manche hier kennen die Wüste vermutlich besser als ich.

Ich bin die Sieben.

Aber nicht die alte Sieben. Eine neue, die nicht länger schwarz ist. Ich bin die bunte Nummer sieben von neun. Ich stehe auf der Bühne. Und ich bin auf seltsame Weise ganz bei mir. Wie unter einer Hülle. Zugleich bin ich aber auch ganz weit weg von mir. Und dann höre ich, wie ich zu lesen beginne:

Ich bin. Ich komme aus.

Wer bist du?, fragte sie mich.

Wer ich bin? Ich bin Flüchtling. Asylwerber. Refugee.

Ja, aber wie heißt du?

Flüchtling.

Ja, aber wie heißt du?

Flüchtling.

Woher kommst du?

Ich komme aus Syrien.

Bitte?

Syrien.

Wo?

SYRIEN! Wo Israel ist, weißt du, ja? Und wo der IS ist, weißt du, ja? Dort.

Aha.

Das Dunkel, das ich als die schwarze Sieben aus Syrien kenne, ist totenstill. Oder es brüllt dir den nahen Tod entgegen. Begleitet von Fußtritten. Schlägen. Dem Knacken des Abzugs einer geladenen Waffe. Dem leisen Kratzen, wenn dir der Lauf dieser Waffe durchs Haar fährt.

Dieses Dunkel hier als Nummer sieben von neun, gleich vor der Bühne, ist nicht still. Immer wieder fliegen Geräusche auf mich zu. Ich kenne sie. Wie wenn jemand es eilig hat. Wie wenn dieser Jemand möchte, dass etwas schnell geschieht. Dieses ungeduldige Schnippen mit den Fingern.

Aber es ist ein anderes Schnippen. Und auch nicht nur eines. Viele Finger. Dutzende. Sie schnippen zur selben Zeit. Und ich begreife, dass es ein Zeichen ist. Weil es bedeutet, dass nicht nur ich sehr angespannt bin. Die Menschen dort unten sind es auch. Sie sind dicht an mir. Dicht an den Worten, die ich mit meinem harten arabischen Akzent zu ihnen hinabspreche. Weil sie darauf konzentriert sind, diesen Worten genau zu folgen und jedes einzelne zu erfassen. Weil diese Worte nicht an ihnen abprallen. Weil sie in sie dringen. Weil die Menschen dort unten zulassen, dass sie sie berühren. Und das Schnippen ist ein äußerer Ausdruck dafür. Und dazwischen eine Stille, dass du einen Nagel fallen hörst. In Österreich, habe ich auch gelernt, sagt man: Nadel.

Bei meinen Vorgängern, Nummern eins bis sechs, haben sie auch geschnippt. Manchmal. Sehr oft aber auch zwischendurch gelacht. Und geklatscht. Bei mir, dem Einzigen, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, wird immer nur geschnippt.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Manchmal habe ich das Gefühl, der Saal vibriert, weil sie so schnippen. Sie schnippen immer nur, weil das, was über meine Lippen kommt, was ich zu sagen habe, auch nicht lustig ist. Aber ankommt. Weil ich eine Sprache habe, und weil sie in die Herzen dringt. Darum schnippen alle diese Finger.

Klatschen. Lachen. Schnippen. Alles mittendrin. Und auch ein lautes Johlen, wenn die Menschen, die man Wertungsrichter nennt, wie ich jetzt weiß, und die kurz vor Beginn der Lesung wahllos aus dem Publikum bestimmt werden, nicht die Tafeln mit den Zahlen hochhalten, die das übrige Publikum gerne hätte. Fünf Menschen mit Tafeln. Die höchste Zahl und die niedrigste werden gestrichen. Die Übrigen zusammengezählt. Wie beim Skispringen werde ich später einmal erfahren, und ich werde auf große, ungläubige Augen stoßen, weil ich sage:

»Was ist Skispringen?«

Klatschen. Lachen. Schnippen. Johlen. Die Gesetze eines Poetry-Slams. Sie lerne ich heute Abend kennen.

»Was ist das, Poetry-Slam?«, habe ich Ruth gefragt, nachdem sie mir eine Zeitschrift, die sie in der Hand gehalten hatte, hingelegt und gesagt hatte: »Omar, lies das!«

Das war vor genau einer Woche.

Ich habe die Falten auf meiner Stirn gespürt. Dann habe ich gelesen, doch ich habe nicht verstanden. Nicht wirklich. Nur, dass es um einen Workshop geht. Um einen Workshop mit Sprache. Einen Workshop für Poetry-Slam. Mit anschließendem Auftritt.

»Möchtest du Kaffee?«, hat Ruth kurz vorher gefragt.

Und noch bevor ich habe antworten können, hat Alena gefragt: »Hast du deine Zähne geputzt?« Sie hat mich streng angesehen. Dann hat sie gelacht.

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