»Herr Barth«, begann ich am Montag das Gespräch mit dem Mann, der seit über vierzig Jahren in der Firma arbeitete und quasi zum Inventar gehörte. Johannes Barth hatte unter meinem Vater hier gelernt, kannte jede Maschine, jeden Prozess, jeden Mitarbeiter wie seine Westentasche. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen. Wenn er nur nicht so unbesonnen wäre, dachte ich oft. Er stürmte voran, ohne nach rechts und links zu schauen. Er wollte immer, dass wir investieren, uns als Vorreiter in der Branche präsentieren, ohne auf die Kosten zu schauen, ohne auf das, was leistbar war mit einem immer mehr zusammenschrumpfenden Team. Johannes Barth wäre durch Wände – oder eben durch Decken – gegangen, wenn ich ihn gelassen hätte. So jedenfalls kam es mir vor. Tatsächlich waren wir in fast allen Dingen unterschiedlicher Meinung und doch konnte ich ohne ihn nicht auskommen.
»Herr Barth, haben Sie noch einen Moment für mich?«, hielt ich ihn auf, gerade als er sich gegen Abend bereit machte, nach Hause zu fahren. »Ich habe von Ihnen geträumt«, fuhr ich fort. Die ungewohnt vertrauliche Mitteilung ließ seine Hand auf der Türklinke abrupt erstarren. Langsam drehte er sich um.
»Na, da bin ich aber gespannt«, erwiderte er.
»Setzen Sie sich bitte.« Ich zeigte auf den freien Stuhl. »Hören Sie zu. Das war nicht irgendein Traum. Das war eine Botschaft.« Und ich erzählte ihm von meinem Traum.
Als ich geendet hatte, schaute Herr Barth mich entgeistert an und sagte: »Unfassbar. Wissen Sie, was ich in der Nacht zum Samstag geträumt habe? Ich war im Fahrstuhl der Rehaklinik am Baldeneysee. Die Klinikbetreiber waren ungehalten, weil einige Räume und Anlagen immer noch nicht benutzbar waren. Wir wollten in den zentralen Serverraum hinunterfahren, da ich ihnen dort das Steuerungs- und Sicherungssystem der Toranlagen erläutern sollte. Aber nachdem die Kabinentür sich automatisch geschlossen hatte, ging nichts mehr. Nichts bewegte sich, kein Knopf reagierte. Wir waren gefangen.«
Ich war fassungslos. Unsere Träume passten wie ein Chromosomenpaar zueinander, so gegengleich verhielten sich die geschilderten Ereignisse. »Und?«, fragte ich neugierig. »Was war die Ursache?«
Er knurrte: »Sie, Chefin.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Sie hatten meine Übergabe verhindert, weil noch irgendwo eine Zierleiste fehlte, was Sie schon Tage zuvor beanstandet hatten. Ich fühlte mich wie auf Eis gelegt.«
Es schien, als würde etwas in mir zerbrechen. So hatte noch nie ein Mitarbeiter mit mir gesprochen. Wagte Johannes Barth das, weil es ein Traum war? Wie so oft in letzter Zeit spürte ich eine Enge in der Brust. Das Gefühl, dass etwas geschehen müsse, ließ mich schon lange nicht mehr los, aber in diesem Moment erschien mir alles so bedrohlich, dass ich meine Rolle als Chefin vergaß. Plötzlich war ich nicht mehr die starke Frau, sondern eher das kleine Mädchen, das die starke Hand des Vaters sucht. Nur – die einzige Hand, die da war, war die von Herrn Barth, meinem ungeliebten Betriebsleiter. Und der nahm, wie ein strenger Lehrer zu Großvaters Zeiten, ein Lineal in seine Hand und schlug mir damit auf die Finger. So jedenfalls kam es mir vor, als er nun jeden einzelnen Grund für seinen Frust wie einen Hieb aufzählte: meinen Perfektionismus, meine ständige Angst, Mitarbeiter könnten etwas falsch machen. Er nannte es »Kontrollwahn«. Meine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mein notorischer Sparzwang, wie er es nannte. Das konnte ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Was erdreistete sich der Mann? Ich schlug zurück, nannte alles, womit er mir tagtäglich das Leben schwer machte: seine ewigen Neuerungswünsche, die immer mit Kosten verbunden waren. Ständig war er unzufrieden, meinte, wir müssten mehr für die Entwicklung tun, um konkurrenzfähig zu bleiben. Sein mangelndes Verständnis für die Konsequenzen. Ich musste ihm immer wieder vor Augen führen, dass ich wirtschaftlich denken und entscheiden musste. Noch nie zuvor hatte ich so mit einem fremden Menschen gestritten. Aber es hatte auch etwas von einem reinigenden Gewitter. Nach den persönlichen Vorwürfen kamen andere Dinge auf den Tisch. Probleme, die nicht mit ihm oder mir zu tun hatten, zumindest nicht offensichtlich: allen voran Achim Hagedorn, der mit jedem in Streit geriet und alles zu sabotieren schien. Dann Bodo Beyer, der schon oft gesagt hatte, dass zu viel an ihm hängen bliebe, er wollte, dass ein zweiter Mann an seine Seite gestellt würde, dass die Aufgaben besser verteilt werden müssten und der sich jetzt einfach aus dem Staub gemacht hatte. Klaus Färber, der Leiter Holz- und Fertigteilebau, war unzufrieden, weil seine Werkzeuge veraltet waren. Wenke Schneider, die Planungsleiterin, kam andauernd und nervte mich mit irgendwas, wozu sie mein Go brauchte: neue Bildschirme, immer wieder Aufträge für eine unserer Zulieferfirmen. Ich sollte wegen einer Verlängerung der Lieferfrist für das Reha-Zentrum verhandeln usw. Alle hatten sich schon mal mehr oder weniger laut über das allgemeine Chaos beschwert und darüber, dass sie nie ausreichend informiert waren. Das Ausmaß an Problemen, so wurde mir bewusst, überstieg bei Weitem das, was ich mir bis dahin einzugestehen bereit gewesen war.
Als alles gesagt war, schwiegen wir. Lange saßen wir uns stumm gegenüber. Ein bisschen konnte ich ihn sogar verstehen. Aus seiner Sicht hatte er ja Recht mit vielem. »Was sollen wir tun?«, fragte ich schließlich leise. Johannes Barth machte ein paar Vorschläge, aber schon kamen wieder meine Bedenken. Immer das Gleiche: Er preschte vor, ich musste bremsen, aus welchen Gründen auch immer. So kamen wir nicht weiter. Egal, um welche Frage es ging – wie wir Mitarbeiter auftreiben könnten, wie wir Bodo Beyer vorübergehend ersetzen könnten, welche Terminverschiebungen wir mit welchen Mitteln erreichen könnten und und und –, der Berg an Problemen schien unüberwindbar. Und unsere gegensätzliche Haltung ebenfalls. Als ich die Hoffnungslosigkeit auch in seinen Augen sah, wollte ich ihm wenigstens etwas Nettes sagen: »Ich weiß, dass Sie damals ziemlich unter der Knute meines Vaters gelitten haben«, wechselte ich das Thema, »umso mehr rechne ich Ihnen an, dass Sie mich nach seinem Tod nicht im Stich gelassen haben und auch jetzt für mich da sind.«
»Ach, Chefin«, Johannes Barth seufzte erschöpft, »das ist sicher gut gemeint, danke. Aber viel besser als bei Ihrem Vater ist es jetzt auch nicht. Okay, im Gegensatz zu ihm sagen Sie zwar ›bitte‹ und ›danke‹, aber bei ihm gab es wenigstens klare Ansagen und schnelle Entscheidungen. Er war eben kein Warmduscher.«
Das saß! So sah er mich also? Ich fühlte mich hilflos und alleingelassen. Dachten die anderen Mitarbeiter auch so über mich? Wir waren keinen Schritt weiter als am Anfang unseres Streits.
Am Abend rief ich meine Freundin Susi an. Ich musste unbedingt meine Sorgen loswerden und ihr auch von dem Traum erzählen. Er beschäftigte mich immer noch und auch das, was Johannes Barth dazu gesagt hatte. »Susi, ich weiß echt nicht weiter. So kann es nicht weitergehen«, klagte ich mein Leid. »Was soll ich tun?«
»Warum holst du dir nicht endlich mal Hilfe?«, erwiderte Susi. »Ich meine, professionelle Hilfe!«
»Ich weiß, was du meinst. Und du kennst meine Einstellung zu Unternehmensberatern. Wir haben oft genug darüber gesprochen. Ich will solche Rattenfänger nicht im Hause haben. Unternehmensberater! Allein bei dem Wort empfinde ich schon regelrechten Widerwillen.«
»Tja, dann wünsch' ich dir einen fröhlichen Untergang. Da kannst du dich ja zu Herrn Schlecker gesellen. Von dem heißt es auch, dass er bis zum Schluss keine Berater zulassen wollte.« Susis unverschämte Antwort traf mich wie ein Dolchstoß. Wenigstens von meiner Freundin hatte ich mir mehr Verständnis und Unterstützung erhofft. Ich schwieg verletzt. »Elke«, lenkte sie nach einer Pause ein, »pass auf, ich erzähle dir mal, was bei uns gerade passiert. Wie schon so oft fing sie an, von ihren beiden verfeindeten Abteilungsleiter-Kollegen zu erzählen, die die gesamte Belegschaft tyrannisierten. Ich machte mich schon auf eine weitere Episode gefasst, als sie plötzlich sagte: »Die beiden arbeiten jetzt zusammen an einem Projekt und sind richtig erfolgreich.«
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