»War der Kerl auch nackt?«, fragt Job.
»Auch, ja. Sah aus wie ein Schulbube. Abgesehen von der Fresse. Ich musste auflachen. Sie grub ihren Kopf in das Kissen, er senkte den Blick. ‚Noch einmal!‘, schrie ich. Es geschah nichts. Der Junge schloss nur die Augen und stöhnte: ‚Nicht schießen, nicht.‘ Da schoss ich in die Mauer. Die Frau sprang auf und wollte nach der Tür. Ich schloss ab. ‚Noch einmal, wenn Ihr leben bleiben wollt‘, sagte ich langsam. Da hob sie den Kopf und sah auf den Jungen. Der beugte sich herab und wollte sie wieder küssen – aber sie fuhr ihm plötzlich mit den Nägeln ins Gesicht, dann lief sie zu mir und hing sich an mich. Ich wehrte sie ab, dass sie lang hinschlug. Und wie sie nun so fiel, dachte ich, schön braun ist ihre Haut. Ich schloss die Tür auf und befahl dem Jungen, sein Zeug zu nehmen. Mit einem Fußtritt des Infanteriestiefels flog er raus und als ich sah, dass mein Stiefel bei ihm einen Abdruck hinterlassen hatte, musste ich wieder lachen.«
Mit der herabsinkenden Dämmerung beginnt es zu regnen. Himmel, Straße, Land und Wald vereinigen sich zu einem trüben Grau.
»Rechts ran!« Ratternd wälzt sich eine Munitionskolonne vorbei. Die ausgehungerten Gäule liegen schwer im Zug. Begleitleute, in Zeltbahnen gehüllt, hocken wie Gespenster auf den Wagen. Sie haben es schwer, sie können im Feuer nicht vor den Pferden laufen, hören im Poltern der Wagen kaum das Heranheulen der Granaten und sind den Splittern besonders preisgegeben. Über gefährliche Striche jagen sie, was die Pferde hergeben, und wenn sie in stockdunkler Regennacht unter Granatfeuer vorüberpoltern, ist es, als geistere ein Zug der Hölle vorbei.
»Und da?«, fragt Müller.
»Ja, und da habe ich getan, als sei nichts weiter. Bin in die Küche gegangen, habe Tee gekocht, dann gebadet und gefuttert. Schließlich kam sie an, stellte sich in eine Ecke und winselte herum. ‚Lange Fahrt gehabt‘, sagte ich fröhlich. ‚Bin verdammt müde.‘ Sie starrte mich an wie ein Wunder. Wozu alles genau erzählen, jedenfalls tat ich so, als sei nichts, aber ich fasste sie auch nicht an. Als sie einmal meinen Arm berührte, sagte ich kurz: ‚Lass das!‘ Darauf sprach ich vom Wetter. Schließlich stieg ich in meine Falle, erzählte noch vieles von der Fahrt, immer im fröhlichen Ton und tat dann so, als wäre ich eingeschlafen. In Wahrheit lag ich noch zwei Stunden wach. Sie wusste nicht, was das alles bedeutete. Jeden Tag flehte sie um Verzeihung. Wenn sie wieder still war, sprach ich sofort von ganz gleichgültigen Dingen, als hätte sie nichts gesagt.«
»Böse Rache«, bemerkt Müller.
Lornsen nickt. »Am letzten Tag kroch sie auf den Knien zu mir heran. Beinahe hätte ich meine Rolle vergessen. Ich redete von der Abreise so, als läge sie nicht am Boden. Als ich ihr dann zum Abschied freundlich lächelnd die Hand gab, markierte sie Ohnmacht. Na, und dann schrieb ich und sie schrieb und in jedem Brief dasselbe: ‚Sag nur ein Wort darüber, verzeihe mir, höre mich an.‘ – Ich tu‘s nicht. Was nun, was?«
Er bekommt keine Antwort. Schließlich meint Job, vielleicht käme er doch nicht zurück, wenn aber, nun, er werde schon wissen, was zu tun sei, jedenfalls habe er sie sehr gern und seine Rache sei »saftig« gewesen.
»Wenn ich falle, gibst Du ihr einen Brief von mir, er ist in meiner Rocktasche.«
Job sagt zu.
»Dazu kann man nichts sagen, Lornsen. So etwas muss jeder nach seiner Art erledigen«, meint Müller.
Nimmt der Student den Stahlhelm ab: »Wenn wir uns etwas gestatten, so ist damit noch nicht gesagt, dass wir den Frauen das Gleiche erlauben.«
»Der redet«, lacht Job, »als ob er vierzig wäre.«
»Die Ehefrau und Mutter gehört nur ins Haus und nicht ins Parlament, nicht auf den Lehrstuhl. Das Gebiet der Frau ist das weite Gebiet des Kindes, alles andere, was liegt daran.«
»Ja«, fällt Job begeistert ein, »was die Dichter und Schriftsteller sich alles zu diesem Punkte leisten, Philosoph hat Recht, da lassen sie in ihren Romanen und Geschichten die Männer sich vor den Weibern betragen wie Idioten, jede Gans, die den Dreck liest, muss ja glauben, sie sei ungeheuer viel wert.«
»Am verrücktesten«, behauptet Müller, »benehmen sich die Amerikaner. Na, das wollen ja auch erst Menschen werden, vorläufig sind es Kinder.«
»Viele Esel tun ja auch so, als seien sie im Paradies, wenn ihr Engel gnädig die horizontale Lage gestattet«, setzt der Student hinzu.
Schaut Lornsen ihn mit ernstem Gesicht an: »Hast wohl noch nie eine gern gehabt?«
»Aus solchen Worten so zu schließen, ist falsch«, antwortet er mit jugendlicher Überheblichkeit.
Die Straße geht steil an. Der Regen tropft von den Stahlhelmen, saugt sich in die Kleidung, macht den Straßendreck noch schlimmer. Die Gespräche verstummen. Nur erst im Graben sein! Dieser ewige verfluchte Marsch aus und in Stellung. Immer länger sitzt man vorn, immer schlechter wird der Leuteersatz. Schon kommen Neunzehnjährige an. Und drüben – da scheinen sie alles zu haben: Gummistiefel, Lederjacken, Wein, tadelloses Fußzeug, Menschen, Menschen und Granaten, fünf auf jede deutsche.
Nachdem sie die Höhe erreicht haben und es nun wieder abwärts geht, gibt‘s »Dunst«. Nicht nur die Straße liegt unter Feuer, auch weit nach rechts und links streut der Gegner. Zunächst wird haltgemacht, aber das Feuer liegt so unregelmäßig, dass nichts übrigbleibt, als so schnell wie möglich hindurch zu kommen.
»Ausgeschwärmt vorgehen bis ins Tal!«
»Nun geht der Mist hier schon wieder an«, flucht Job. »Lasst sie nur ausgeschwärmt vorgehen, wir gehen halbrechts quer über das Feld, wir machen einen großen Bogen. Kommt Kinder.«
»Machen wir«, nickt Müller, und die Vier ziehen ihren Weg allein.
Mitten auf der Straße wirbelt eine Granate zwischen drei Mann den Straßenkot hoch, sie werden umgerissen und bleiben still liegen. Weiter links knicken Bäume um, zwei Mann schreien mit verzerrten Gesichtern. Einer springt hoch, vor ihm steigt die Wolke eines Einschlags, er schreit grell auf, bricht zusammen, kommt wieder hoch, kriecht weiter, sinkt um und bleibt winselnd liegen. Immer wieder heult es heran, bellt nervenerschütternd auf, Granate auf Granate. Jedes Heransingen und Heulen dringt tief ins Gehirn, spannt die Muskeln, beugt den Nacken, öffnet die Lippen zu einem ohnmächtigen Fluch.
Die Splitter der Sprenggranaten sausen mit unheimlicher Gradheit Millimeter hoch nach allen Seiten über den Boden, und ihr Lauf ist von feinen Strichen viele Meter weit gezeichnet. Da hilft es wenig, dass man sich in den Straßenschlamm presst, dass man den Kopf flach auf die Erde legt. Ist der Boden nicht allzu weich, machen diese verhassten Granaten flache Mulden statt Trichter.
Im Tal gibt die Infanterie in einer Batteriestellung Tote und Verwundete ab. Das Pferd eines Offiziers wird von einem Splitter getroffen und bricht zusammen. Der lange, spitzzackige Splitter hat den Bauch aufgerissen. Das Tier hebt den Kopf und schaut mit seinen ruhigen, dunklen Augen auf seinen Herrn. Die Vier stehen in der Nähe. »Muss erschossen werden«, sagt Müller. »Das geht Sie einen Dreck an!«, schreit wütend über den Verlust seines Pferdes der Offizier. »Gehen Sie beiseite.« Er erschießt es. Sofort stürzen sich Infanteristen darauf. Ein Mann sitzt beim Hals, säbelt mit seinem Taschenmesser ein Stück der Mähne hoch und schneidet darunter Fleisch heraus. Ein Schlachter trennt mit geübter Hand die besten Stücke ab und verteilt sie. Die Unteroffiziere haben Mühe, die Leute von dem Pferde fortzutreiben.
»In der Heimat haben viele nicht einmal dies«, schimpft Job.
Ballt Müller eine Faust: »Und viele merken gar nichts, rein gar nichts. Und viele freuen sich sogar, dass Krieg ist, dies Geldgesindel.«
»Wenn Schluss ist, räumen wir auf«, setzt Lornsen hinzu.
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