»Solltest eigentlich gleich hierbleiben«, wendet sich Job plötzlich an den Studenten, »könntest gleich ins Lazarett gehen und ein paar Tage abwarten.«
»Vielleicht wollte Philosoph auch nichts weiter, als sich was wegholen, damit er so schnell wie möglich wieder aus dem Graben kommt«, meint Lornsen.
»Das ist der blanke Neid«, lacht der Student und tut, als hätten sie recht mit ihrer Vermutung.
»Na weißt Du«, spottet Müller, »da sind mir die in Sedan doch lieber.«
Sie machen ihre Witze über das Bordell in Sedan. Der Student behauptet, um Job, der verheiratet ist, zu ärgern, dass dort nur verheiratete Männer zu finden seien.
»Lasst uns eins singen«, meint endlich Müller.
Job hat es gedichtet, die Melodie stammt vom Studenten:
Im schmalen Hohlweg
Ein Riesentrichter,
Drei Pferde, zwei Mann –
begeistert trat ich heran.
singt Müller. Die anderen fallen ein:
Hier ein Kopf
und dort ein Arm,
kunterbunt und Brei
in des Straßenschlammes Einerlei.
Ein Unteroffizier schüttelt missbilligend den Kopf. Müller sieht es und brüllt mit ganzer Kraft der Lunge:
Kleine süße Maden,
dicker Brummer Schwaden,
Briefes Ende mir zu Füßen:
(Heben sie die Stimmen, um sie weiblich klingen zu lassen.)
,Unser Kindchen lässt dich grüßen.‘
Schön ist der Soldatentod, sonderlich am Abend
wenn die Sonne blutigrot
tut das Herz erlaben.
In den Gesichtern steht ein ironisches Grinsen. Einmal, als es hieß »Singen!«, sangen sie auch dies Stückchen. Der Feldwebel fuhr dazwischen und verbot »solch Mistzeug, solch rotes Etappenmistzeug«. Als es dann wieder hieß »Singen!«, sang niemand. Der damalige Leutnant ließ umkehren (es spielte sich weit zurück in der Etappe ab), eine halbe Stunde Marsch zurück, dann kehrt und wieder der Befehl »Singen!« Kein Mensch sang. Wer dazu neigte, wurde von dem Neben- oder Hintermann angezischt. Bei derselben Straßenecke wieder kehrt und wiederum zurück, diesmal nur zehn Minuten. Das gleiche Schauspiel von neuem. Endlich wurde es dem Leutnant langweilig. Er hielt eine drohende Ansprache. Da trat Job vor die Front.
»Kerl! Was wollen Sie?«
Ob er sprechen dürfe.
»Ja, mach die Brotluke auf.«
»Wenn sie nicht singen dürfen, was sie wollen, singen sie überhaupt nicht, die Kameraden, soweit ich es überblicken kann.«
Er habe befohlen, zu singen, weiter nichts, was sie sängen, daran sei ihm »ein Dreck« gelegen, zog sich der Leutnant aus der bedenklichen Situation. »Eintreten!«
Als es dann hieß: »Singen!«, ertönte aus Jobs Kehle prompt wieder das gleiche Lied. Die anderen fielen ein und von dem Tage an stieg sowohl das Ansehen Jobs als auch das Ansehen des Liedes.
Hoch bedeckt der graue Straßenbrei die Chaussee. Die Stahlhelme gespenstisch auf den Köpfen, die »Knarren« umgehängt, waten die Leute vornübergebeugt durch den Schlamm. Der Leutnant trägt einen Spazierstock; die Mode, »Krückmänner« zu benutzen, ist weit verbreitet. Manchmal sieht man Leute mit knorrigen Stöcken, unsoldatisch und doch wieder angesichts Stahlhelm, Gasmaske und Gewehr seltsam kriegerisch, sich dahinschleppen. Sind dann die Uniformen über und über grau bekrustet vom Dreck der Trichter und Gräben, so sehen sie mit ihren bleichen Gesichtern, ihren tiefliegenden Augen aus wie Wesen aus einer anderen Welt.
Als nächstes folgt das sogenannte »Schornsteinfegerlied«. Es ist weit an der Westfront bekannt und sehr beliebt.
Klosterschwestern freuet euch,
Morgen wird gefegt bei euch,
simserim, simsim.
heißt es in dem Liede und:
Schwester Klara war sehr eigen,
ließ sich jeden Besen zeigen,
simserim, simsim …
Von den Vieren, die eine kleine Kameradschaft bilden in der großen, die die Front umspannt, geht die Rede, dass der Tod sie nicht haben will. Diese »Parole« hat natürlich ihre Gründe: einmal verließen sie einen Unterstand, kurz darauf drückte ihn eine schwere Mine ein, ein anderes Mal fiel eine Fliegerbombe zwei Meter vor ihnen auf einen Weg und krepierte nicht, bei einem Sturm blieb alles im Sperrfeuer liegen, nur die Vier kamen heil zurück und ähnliche Fälle mehr. Sie teilen alles redlich miteinander. Müller, der Bauernsohn, sorgt für Zusatzportionen in Form von väterlicher Wurst. Der Student für Zeitungen und Bücher. Job, der drei Kinder hat und Vorarbeiter in einer Fabrik ist, spielt so eine Art Hausvater, er schützt ihr Leben, wo er kann, und da er der Älteste ist und viel Grabenerfahrungen besitzt, ordnen die anderen sich meistens unter. Der Techniker Lornsen ist von einer Pionierabteilung aus zu ihnen gekommen. Er hat Tabakbeziehungen und sorgt für einigermaßen anständige Zigarren.
»Wenn wir nicht so feige wären«, sagt Job, »gingen wir nicht mehr in Stellung.«
»Wir sind doch Helden, Mensch!«, lacht der Student auf. »In den Zeitungen steht es doch jeden Tag zu lesen.«
»Wir sind«, dreht sich ein Vordermann um, »die besten Soldaten der Welt, daran ist nicht zu rütteln.«
»Egal«, schreit Job. »Ich habe neunzehnvierzehn nicht ,Hurra‘ gebrüllt, was geht mich der Dreck an.«
»Hallo!«, antwortet Müller, »sollen wir jetzt plötzlich sagen: Bitte, meine Herrschaften, marschiert nur ein in Deutschland.«
»Was Vaterland und Heimat«, entgegnet Job, »wir Industriekerls haben das nicht, ich zum Beispiel habe in Köln, Berlin, Hamburg, Essen, Rom und Kopenhagen gearbeitet, was heißt bei mir Heimat? Heimat heißt bei mir Mietskasernen, Straßenkrach, Häusermeer, Prolet hier, Prolet da.«
»Nee, Philosoph, uns hängt der Dreck zum Halse heraus«, wendet sich Müller an den Studenten. »Warum gehen wir, Deiner Meinung nach, denn noch in Stellung?«
»Wir gehen nach vorn«, antwortet der Student, »weil wir zu feige sind, nach hinten zu gehen. Wir fürchten die Bestrafung wie kleine Kinder den Schornsteinfeger. Als ob es für uns überhaupt noch eine Bestrafung gibt. Festung – das muss ja fast eine Erholung sein. Außerdem sind wir Herde. Eine Herde sehnt sich immer nach Führung, vorläufig werden wir nach vorn geführt – also gehen wir nach vorn. Vielleicht kommen eines Tages Führer, die uns nach hinten stürmen lassen. Wir warten vielleicht schon darauf, aber es wollen sich keine zeigen. Sklaven sind wir im Grunde und keine geborenen Helden, das ist es. Wenn hier ein Held ist«, ruft er laut, »so trete er nach rechts heraus, haue dem Feldwebel ‚Grabengespenst‘ in die Fresse, setze sich auf einen Kilometerstein und sage: hier sitze ich, ich kann nicht anders, Amen.«
Alles lacht durcheinander.
»Hat sich kein Schwein gemeldet«, höhnt Job. »Alles Mistvieh. Alles nur reif und gut für Massengräber. Diesmal gehe ich zum letzten Mal in Stellung, das schwöre ich Euch.«
»Du hast geschworen, merkt Euch das. Er hat geschworen!«, ruft Müller.
»Alle Vier«, flüstert erregt der Student. »Oder nicht, Lornsen?« Lornsen will auch dabei sein. »Aus Kameradschaft«, sagt er.
»Ihr Affen, das werdet Ihr schon bereuen«, dreht sich ein Gefreiter um.
»Was willst Du denn!«, fährt der Student auf. »Es ist eine Auszeichnung für einen Menschen, wenn man ihn mit einem Tier vergleicht! Dies scheinst Du noch immer nicht zu wissen. Probiere es und sage zu einem Tier – Mensch. Es wird schwer beleidigt sein.«
»Wieder was«, bemerkt Job, »quassel nur weiter, Philosoph, das ist ganz hübsch.«
»Einen Vogel hat jeder von Euch Vier«, meint giftig der Gefreite.
»Das ist so mit den Tieren«, lacht der Student, »sie sind eine Erholung vom Menschen. Bewusste Grausamkeit kennt nur der Mensch und vielleicht schwach gewisse Affensorten. Bewusst raffiniert grausam kann nur der Mensch sein. Wildlebende hungrige Katzen spielen nicht mit Mäusen. Und das Schönste ist, dies Geschöpf Mensch erreichte die Spitze seiner Grausamkeit innerhalb der eigenen Gattung. Langsames Aufkochen in Wasser oder Wein, langsames Braten, langsames Zerstückeln und was dergleichen mehr ist. Und dann diese Verlogenheit, diese innere Stillosigkeit. Zum Beispiel: Schutzvereine für Tiere und Flammenwerfer für Menschen im Krieg, Dankgebete nach der Schlacht, Strafmandat, wenn du, nur mit der Hose bekleidet, durch die Straßen läufst oder ohne Badeanzug badest. Dabei einen ungeheuren Haufen geschlechtlicher Witze und jeder seine geschlechtliche Praxis nebst schlechtem Gewissen. Schweigen wir, es ist alles so sonnenklar. Der Mensch leidet außerdem an einem Größenwahn, der zum Heulen ist. Gottes Ebenbild nennt er sich, die Welt soll seinetwegen gemacht worden sein, wenigstens aber die Erde. Er allein hat eine Seele, er allein lebt nach dem Tode weiter, er allein kann denken. Und wie weit hat er es gebracht! Wundervoll weit, ganz furchtbar wundervoll.«
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