3
Ich schlief durch bis zehn, schälte mich nach kurzem Kampf aus dem Bett, setzte Kaffee auf und stellte mich dem Montagvormittag einer neuen Woche.
Ines hatte das Wohnzimmer aufgeräumt, die Bettwäsche in der Truhe verstaut und gelüftet. Auf dem Tisch lag die Visitenkarte der gestrigen Besucherin: Susan Maiwald. Adresse im Lehel, gar nicht weit von mir, gute Gegend. Telefonnummer, E-Mail-Adresse.
So etwas hatte ich im Abi-Alter noch nicht unter die Leute gebracht. Ich hatte gerade zum ersten Mal im Leben bei der Eröffnung meiner Detektei Visitenkarten drucken lassen.
Das Lehel war eines der teuersten Innenstadtviertel. Nur ein Katzensprung von der Isar und vom Englischen Garten. Ich kannte keine Untersuchung, aber wenn es irgendwo in München gute Luft gab, dann dort.
Während die verkalkte Kaffeemaschine vor sich hin spotzte, ging ich ins Bad und widmete mich der neuen Ultraschall-Zahnbürste, die mein Zahnarzt mir ans Herz gelegt hatte. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte mir den Lauf der Zeit in meinem Gesicht. Die Augenringe waren eindeutig chronisch geworden und keinem Kater nach durchgefeierter Nacht in die Schuhe zu schieben. Auch keiner Taxinacht. Die Lachfalten blieben, selbst wenn es überhaupt nichts zu lachen gab.
Ich setzte mich in die Küche und trank Kaffee. Stark und schwarz. Mein Magen signalisierte, dass er vorerst in Ruhe gelassen werden wollte von Feststofflichem. Dann holte ich das Telefon und die Visitenkarte von Susan Maiwald.
Sie meldete sich nach dem ersten Läuten.
»Maiwald.«
»Guten Morgen, Frau Maiwald. Ludwig Fendt. Sie waren gestern bei mir. Möchten Sie mir erzählen, warum?«
Und Susan Maiwald erzählte. Sie erzählte von einer verschwundenen Mutter, von Angst, von einer Polizei, die sie nicht ernst nahm.
»Ich schlage vor, Sie kommen vorbei und erklären mir das alles nochmal in Ruhe. Und auch was ich für Sie tun kann.«
Ich schenkte mir die zweite Tasse Kaffee ein. Das Wohnzimmer musste noch etwas umgerüstet werden, um als professioneller Arbeitsraum der Detektei Fendt durchgehen zu können. Gut, dass es ohnehin ziemlich nippesfrei war, dachte ich. Ich mochte es nicht, wenn in Wohnungen zu viel Aufbewahrtes herumstand. Zeugen längst überholter Lebenszeiten. Ich mochte es nicht, wenn Menschen sich nicht trennen konnten, aus jeder Zeit Dinge in die nächste trugen, Erinnerungen, als ob man für das Schöne im Erlebten Eselsbrücken bräuchte.
Susan Maiwald sah nicht ganz so aus, wie Ines sie beschrieben hatte. Jedenfalls entsprach sie nicht der Erwartung, die bei mir nach der Schilderung meiner Tochter entstanden war. Sie war langhaarig und blond, gut frisiert, gut angezogen, die Klamotten bestimmt nicht billig. Aber nach Ines’ Beschreibung hatte ich eine eitle aufgetakelte Göre erwartet. Das war sie nicht. Da stand eine junge Frau vor mir, die in die Eleganz noch nicht hineingewachsen war, die sie ausstrahlen wollte. Nylons, Pumps, Kostümchen. Eine kleine große Dame. Es war klar, dass es Ines da schauderte. Mein kleines Punkermädchen mit den kurzen lila Haaren und den großen Stiefeln.
Wir tauschten ein paar Förmlichkeiten. Ich platzierte sie in meinem Wohnzimmersessel, schenkte Mineralwasser ein, sie wollte keinen Kaffee.
»Jetzt erzählen Sie mal in Ruhe!«, sagte ich.
»Sie müssen meine Mutter suchen!«
»Das heißt, Ihre Mutter ist verschwunden?«
»Ja! Seit fünf Tagen. Wir waren verabredet, und sie ist nicht aufgetaucht. Einfach nicht gekommen. Wir wollten uns im Rischart treffen, einen Kaffee trinken und dann shoppen gehen. Ich hab gewartet und gewartet, angerufen. Nichts. Einfach verschwunden.«
»Wie heißt Ihre Mutter?«
»Anja Maiwald«
Sie nippte an ihrem Wasser, lehnte sich zurück und blickte erwartungsvoll in meine Richtung, so als wäre es ihr Part gewesen, das Problem zu schildern und ich wäre nun mit der Lösung dran. Aber bevor ich beginnen wollte, Fragen zu stellen, war es mir wichtig, möglichst viel aus ihrer Perspektive zu erfahren. Das kleine Einmaleins der Detektive. Reden lassen, zuhören, nicht zu früh und zu oft unterbrechen.
»Erzählen Sie weiter! Was haben Sie gemacht? Was haben Sie versucht?«
Sie nippte noch mal, räusperte sich, anscheinend hatte sie einen trockenen Mund.
»Ich bin nach Hause gegangen. Habe mit Mike geredet.«
»Wer ist Mike?«
»Mike ist mein Freund. Er meinte natürlich, dass sie sich schon melden würde. Ich sollte Ruhe bewahren. Aber sie meldete sich nicht. Dann habe ich alle Leute angerufen, bei denen ich mir vorstellen konnte, dass sie dort sein könnte oder mit ihnen unterwegs. Nichts. Niemand wusste was.«
»Kennen Sie denn alle ihre Freunde und Bekannten?«
»Die meisten bestimmt. Ihr Adressbuch habe ich nicht gefunden. Sie muss es bei sich haben.«
»Sind Sie zur Polizei gegangen?«
»Ja, nach drei Tagen.«
»Es läuft also eine polizeiliche Suche nach ihr.«
»Das glaube ich nicht.«
Der Satz kam dermaßen traurig rüber, traurig und resigniert, aber auch trotzig, anklagend. Sie lehnte sich zurück. Wir schwiegen beide und ließen dem Gesagten eine Pause, um sich zu setzen. Dann wiederholte sie: »Ich glaube nicht, dass man sie sucht.«
»Warum glauben Sie das nicht? Wie hat man denn reagiert auf Ihre Vermisstenmeldung?«
»Zuerst interessiert. Ich erzählte, sie hörten zu. Ich sagte ihnen auch, dass Mama kein Heimchen am Herd war. Dann ließ man mich eine Weile sitzen. Anscheinend haben sie irgendetwas Gespeichertes durchgecheckt. Mir war schon klar, was sie gefunden haben. Meine Mutter war schon zwei Mal verschwunden und beide Male unversehrt zurückgekommen. Und dann erklärten sie, dass es wahrscheinlich diesmal wieder so wäre. Das war’s dann.«
»Aha. Wussten Sie davon?«
»Ja, sie hatte es mir mal erzählt. Es ist viele Jahre her.«
»Erzählen Sie mir auch davon!«, forderte ich sie auf. Ich befürchtete, dass der Fall oder der Auftrag gerade dabei war, sich von mir zu verabschieden. Eine Mutter suchen, die einfach mal ein paar Tage ihre Ruhe wollte und keine Lust hatte, ihr Töchterchen davon in Kenntnis zu setzen. Das war nicht mein Job. Allerdings, die geplatzte Verabredung war kein netter Start dafür. Aber vielleicht hatte sie das Treffen einfach vergessen.
Susan Maiwald begann zu erzählen. Ein wenig ängstlich, als befürchtete sie, dass ich ähnlich reagieren würde wie die Polizisten. Ganz Unrecht hatte sie nicht damit.
»Meine Mutter ist als kleines Mädchen mal ausgerissen. Sie war ungefähr zwölf. Sie wohnten in Bogenhausen in einer Villa. Da wohnen ihre Eltern heute noch. Sie war bis dahin immer ein braves Mädchen gewesen. Sie ist zu Fuß bis zum Englischen Garten gekommen. Hat sich zu einigen Späthippies, die Musik machten und kifften, auf die Wiese gesetzt. Ein paar von ihnen, völlig zugedröhnt, haben sie mitgenommen in ihre WG.«
»Und sie dort behalten?«
»Ja. Das süße Mädchen, das raus wollte aus der bürgerlichen Enge und mal ein anderes Leben sehen als das ihrer Eltern. Sie fanden es Klasse, und dem Mädchen ging’s prima. Nach einer Woche war mal einer von ihnen nüchtern genug, einen Bericht über das vermisste Mädchen in der Zeitung zu entdecken. Fernseher hatten sie keinen. Sie haben sie dann zur Polizei gebracht, die sie natürlich überall gesucht hatte.«
»Das hat aber noch nicht gereicht, um heute eine Vermisstenmeldung in den Papierkorb zu werfen, oder? Was war das zweite Mal?«
»Das zweite Mal war kurz nach meiner Geburt. Sie war jünger als ich heute. Geld war genug da im Elternhaus. Aber mit einem Kind kam sie nicht klar. Meine Großeltern hatten reichlich Personal engagiert, um mich zu versorgen, aber sie hielt es trotzdem nicht aus und lief davon. Ich glaube, sie wollte aus ihrem Leben verschwinden.«
»Traurige Geschichte«, sagte ich. »Wie lange blieb sie weg?«
Читать дальше