Sie nahm ihren Koffer aus dem Auto und ging zum Strand. Chris folgte ihr sichtlich verstört, was Ron mit zufriedenem Grinsen quittierte.
»Ich habe Sie gewarnt«, murmelte er so leise, dass es die Pathologin nicht hören sollte.
Sie blieb augenblicklich stehen, drehte sich um und bedachte Ron mit einem eisigen Blick. »Ich mag es übrigens gar nicht, wenn man hinter meinem Rücken tuschelt.« Dann wandte sie sich an Chris. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund, als sie mahnte: »Vergessen Sie einfach, was er gesagt hat, meine Süße. Der Mann versteht nichts von Frauen.«
»Sie umso mehr«, flüsterte ihr Ron grinsend ins Ohr.
Sellick stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als die Pathologin sich endlich über den Leichnam beugte. Er entfernte sich rasch in Richtung Pub. Dr. Barclay betrachtete den Toten eingehend, tastete ihn ab, suchte nach verborgenen Verletzungen, maß Körper- und Wassertemperatur.
Schließlich richtete sie sich auf. »Kann mir mal jemand helfen? Wir müssen ihn auf den Rücken drehen.«
Zum ersten Mal sah Chris das Gesicht des Toten. Kein schöner Anblick, die blauen, fast weißen Lippen und die eingefallenen, schwarzen Augen, die einen anklagend anstarrten. »Können Sie den Todeszeitpunkt eingrenzen?«, fragte sie.
»Schwierig zu sagen, wenn man nicht weiß, wie lange der Körper im Wasser gelegen hat. Die Totenstarre ist vom Sartorius abwärts noch nicht voll ausgeprägt. Die niedrige Wassertemperatur verzögert den Prozess. Ich schätze, der Mann ist vor vierzehn bis zwanzig Stunden gestorben.«
»Ertrunken?«
»Vielleicht. Jedenfalls nicht erschossen. Ich sehe keine Zeichen von Gewaltanwendung. Die Hämatome sind Schürfungen, die er sich vor dem Tod zugezogen hat. Sieht nicht nach Todeskampf aus.«
»Ein Unfall?«
»Vielleicht«, wiederholte die Pathologin lächelnd. »Genaues kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen.« Ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ich freue mich schon auf unser Rendezvous in der Gerichtsmedizin.«
Sie erhob sich, packte ihren Koffer und gab den Helfern das Zeichen, den Toten abzutransportieren.
Kapitel 2
South Kensington, London
Gegen ein Uhr morgens betrat Chris den Laden des Pakistaners an der Sloane Avenue gegenüber ihrem Wohnblock. Der Tante-Emma-Laden war nicht viel mehr als ein prall gefüllter Schlauch. Ein Füllhorn mit allerlei Nützlichem und noch mehr Ramsch. Vierundzwanzig Stunden am Tag offen, sieben Tage die Woche. Das Family Business des Rashid Barija. Das greise Familienoberhaupt stand an manchen Abenden selbst im Laden, außer freitags. Er brauche wenig Schlaf, hatte er ihr schon beim ersten Besuch anvertraut. Er liebte lange Gespräche, kannte sich aus in der Lokalpolitik und hatte eine klare Meinung zur Regulierungswut des Mayors. Auch das hatte sie schnell festgestellt, nachdem sie vor zwei Wochen im Haus gegenüber eingezogen war. Einen besseren Einstieg ins pralle Londoner Leben hätte sie sich nicht wünschen können.
»Ist Rashid nicht da? «, fragte sie den jüngeren seiner Söhne an der Kasse, der praktischerweise auch Rashid hieß.
»Nein, Miss Chris. Vater hat sich erkältet.«
»Das ist doch kein Grund für ihn, nicht im Laden zu stehen.«
Rashid lachte. »Ja, Sie haben recht, aber Mutter hat es ihm verboten.«
»Kluge Frau.«
Im Grunde kam ihr die Abwesenheit des kommunikativen Alten nicht ungelegen. Der erste Arbeitstag im Yard hatte sie ziemlich geschafft. Sie war zu kaputt für lange Diskussionen. Beide Hände voll mit Essigchips und vier Flaschen Mineralwasser und Cola, alles Größe XXL, verließ sie den Laden. Sie hatte Glück. Eine Nachbarin, die in der Etage unter ihr wohnte, traf gleichzeitig ein und schloss die Haustür auf. Unter dem leichten Mantel trug sie elegante Abendkleidung.
»Auch Spätschicht?«, scherzte Chris.
Die Frau war etwa gleich alt wie sie, hatte ungefähr die gleiche Statur. Neckische Ponyfransen kitzelten ihre Stirn, und sie schaute sie mit braunen, fast schwarzen Rehaugen erschrocken an. »Nein – ich war in der Oper. Orfeo«, stammelte sie.
»Oh, Barock, Monteverdi.«
Die Frau lächelte erleichtert. »Kennen Sie die Oper?«
»Nur Ausschnitte. Ich habe sie nie gesehen. Barockopern sind nicht so mein Ding.«
»Meins auch nicht, ehrlich gesagt«, lachte die Nachbarin. »Ich habe nur meiner Freundin einen Gefallen getan. Eigentlich mag ich die modernen Musicals.«
»Ich liebe so ziemlich jede Musik seit Mozart.«
Die Frau hielt ihr die Lifttür auf. Es gab doch Menschen im Haus, mit denen man reden konnte, dachte Chris. Während der ersten zwei Wochen war sie hin und wieder einem Mitbewohner begegnet, hatte jedoch kein Wort gewechselt. Es war beim freundlichen Kopfnicken geblieben, wie sie es nicht anders erwartet hatte in der Großstadt. Sie benutzte die Gelegenheit, streckte der Nachbarin ihre Rechte entgegen, so gut es ging, ohne die Flaschen fallen zu lassen, und stellte sich vor:
»Ich bin übrigens Chris.«
Die Frau schlug zaghaft ein. »Kate. Freut mich – dass wir uns kennenlernen.«
»Mich auch, Kate. Ich fürchtete schon, die Leute im Haus hätten die Sprache verloren.«
»Sind alle sehr beschäftigt, wie Sie.«
»Da haben Sie wohl recht.«
Sie verließ den Aufzug mit ihrer neuen Bekanntschaft, verabschiedete sich und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Jeder Schritt schmerzte. Sie hätte im Stehen einschlafen können. Ihre Hand tastete nach dem Schlüssel. Eine der Plastikflaschen begann zu rutschen. Sie fiel zu Boden und rollte polternd die Treppe hinunter. Mit einem leisen Fluch ging sie in die Knie, schaffte es gerade noch, ihre Einkäufe abzusetzen, bevor sich weitere Flaschen selbständig machten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Kate besorgt mit der Flasche in der Hand.
»Ja, Entschuldigung – danke. Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig.« Sie erhob sich ächzend und schloss auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, vielen Dank, ich bin schon O. K., nur zum Umfallen müde.«
Es war ihr äußerst peinlich, dass Kate die Unordnung in ihrer Wohnung sah. Im Korridor stapelten sich immer noch die Umzugskartons. Die drei Zimmer waren bestenfalls notdürftig eingerichtet. Was eigentlich ein schönes Apartment hätte sein können, glich einer Besenkammer. Das fiel ihr erst jetzt auf, nachdem fremde Augen das Chaos gesehen hatten. Für die paar Stunden, die sie sich, meist schlafend, hier aufhielt, genügten ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Küchentisch und ein Stuhl. Zwei Stühle, falls doch einmal jemand zu Besuch käme. Die paar Bücher, die sie nicht elektronisch besaß, lagerten noch in einer Kiste, zusammen mit der Musikanlage und dem originalverpackten ›IKEA‹-Regal. Nur das Wichtigste hatte sie ausgepackt. Die Zahnbürste, ein paar Klamotten, ihre Schuhe und das Saxophon, ihren treusten Begleiter, dem sie täglich eine Stunde widmete, um abzuschalten oder sich aufzurichten. Charlie ›Bird‹ Parkers ›My Melancholy Baby‹ war eine kostenlose Droge, wirksamer als jedes Valium oder Aspirin. Am Ende des ersten Arbeitstages wollte sie allerdings nur noch eines: Die Augen schließen in der Hoffnung, nicht von Wasserleichen und Pathologinnen zu träumen.
Scotland Yard, London
Vielleicht hätte sie doch besser einen der Kollegen gefragt, statt sich auf den Plan im Intranet zu verlassen. Chris stand ratlos, mit dem halbleeren Pappbecher in der Hand, im Gebäudeflügel, der die Labors der Kriminaltechnik beherbergen sollte. Es roch nach frischer Farbe. Die meisten Türen im langen Korridor waren nicht angeschrieben. Dort, wo das forensische Labor sein sollte, fand sie ein leeres Großraumbüro und endlich einen Menschen, den sie fragen konnte. Der Maler bemerkte sie nicht. Er stand auf seiner Leiter, summte leise vor sich hin und strich die Decke im Rhythmus der Musik aus seinem iPod. Sie blieb in sicherer Entfernung stehen, winkte und rief, bis er den Farbroller absetzte und einen Stöpsel aus dem Ohr zog. Er starrte sie mit offenem Mund an.
Читать дальше