»Wenn Sie den Zugriff benötigen, bekommen Sie ihn.«
Was der Typ behauptete war schlicht undenkbar. Der Mann wusste nicht, was er sagte. Vladimir warf seinem Boss Andrei einen warnenden Blick zu und murmelte laut genug, damit es auch der Unbekannte hörte:
»Wir brauchen Zeit.«
Wieder kam die Antwort des Unbekannten blitzschnell, als hätte er auf den Einwand gewartet:
»Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben. Es gibt ein Fenster von zehn Tagen. Dann ist es zu spät.«
Der Kerl musste total verrückt sein. Wahrscheinlich brauchten sie nur schon zehn Tage, um einen Zugang zum System zu finden, der sich für ihre Zwecke eignete. Die ganze Truppe begann aufgeregt zu diskutieren, bis Andrei Einhalt gebot. Vorsichtshalber wandte er sich an Gott, seinen Vater:
»Wir müssen das seriös analysieren, um endgültig zu entscheiden.«
»Bis wann?«
»Vierundzwanzig Stunden«, behauptete Andrei.
Es klang überzeugend, obwohl er wie alle andern keine Ahnung haben konnte, wie lang sie tatsächlich brauchen würden, um die Machbarkeit zu untersuchen. Der Unbekannte nickte.
»Vierundzwanzig Stunden«, bestätigte er und wandte sich zum Gehen. »Auf dem Tablet finden Sie alle notwendigen Informationen zum Auftrag.«
Gott folgte ihm zur Tür. Bevor sie den Bunker verließen, wandte er sich nochmals an seine Elitetruppe:
»Ich bin sicher, ihr werdet mich nicht enttäuschen – und denkt daran: Was immer ihr braucht, um den Auftrag meines Freundes auszuführen, ihr bekommt es.«
Vanyas Mund klappte zu.
»Was war das denn?«, fragte er ratlos, sonst nie um einen bissigen Kommentar verlegen.
Fisik schüttelte ungläubig den Kopf. »Hat der Allmächtige irgendeine Vorstellung davon, was er gerade gesagt hat? Was immer ihr braucht – wie wär‘s mit einer neuen Serverfarm, damit wir endlich anständig Bitcoins fördern können? Von mir kriegt der eine Wunschliste länger als der Newski-Prospekt.«
»Dein Einsatz in Ehren, meine Liebe, aber so wird es nicht funktionieren«, entgegnete Andrei.
»Aha, und das sagt der Hardwarespezialist.«
Vladimir versuchte, die Wogen zu glätten. Das Gezänk hinderte ihn am Denken.
»Leute, haltet mal die Klappe. Wir haben nicht viel Zeit, also machen wir uns an die Arbeit. Überlegen wir, was wir wirklich brauchen, falls wir den Auftrag annehmen.«
Andrei lachte ihn aus und versicherte:
»Die Option nicht anzunehmen gibt es nicht, Freunde. Falls ihr es nicht kapiert habt: Neinsagen bedeutet Kopf ab für den Alten, und das wollt ihr nicht erleben, glaubt mir.«
Der stille Architektor Fedor unterbrach das betroffene Schweigen, das Andreis Drohung folgte:
»Fisik hat recht. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die starke Verschlüsselung zu knacken, mit der wir rechnen müssen, brauchen wir die Leistung eines Supercomputers.«
»Die sollen uns den Lomonosov zur Verfügung stellen«, schlug Vladimir vor.
Der Supercomputer in Moskau war vor ein paar Jahren immerhin einer der schnellsten in Europa gewesen.
Fisik schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Die 30‘000 Xeons sind ja ganz niedlich, aber ich glaube, es gibt Besseres. Augenblick.«
Sie hüpfte an ihren Arbeitsplatz. Die Finger spielten eine Weile Rachmaninow auf der Tastatur, dann verkündete sie mit breitem Grinsen:
»Ich wusste es. T-Platforms hat das Monster in Testbetrieb genommen. Zehnfache CPU-Leistung gegenüber Lomonosov. Wir müssen nur aufspringen.«
»Das Monster ist eine Legende«, behauptete Vanya mit einer abschätzigen Handbewegung.
Vladimir kannte wie alle in der Szene die Gerüchte über den neuen, wassergekühlten Supercomputer, aber eben nur Gerüchte.
»Bist du sicher?«
»Euch ist nicht zu helfen. Überzeugt euch doch selbst.«
Sie wandte sich beleidigt ab und widmete sich ihrem Smartphone. Auf dem mittleren der drei Bildschirme, die aus dem Chaos der Platinen, Chips, Trafos und Kabel auf ihrem Pult herausragten, konnten sie es lesen. Irgendwie war es ihr gelungen, in den geheimen Bereich des Armeenetzwerks einzudringen, wo die Pläne, Protokolle und aktuellen Berichte über die Inbetriebnahme des Supercomputers der nächsten Generation verwaltet wurden. Die Spezifikationen der Anlage rechtfertigten durchaus den Spitznamen Monster. Wenn irgendeine Maschine moderne Verschlüsselungen in nützlicher Frist knacken konnte, dann wohl dieses Monster. Andrei klopfte seiner Freundin anerkennend auf die Schulter.
»Gut gemacht, Kleines. Wir werden freien Zugang zum Monster fordern. Da kann der Freund des Alten beweisen, wozu er fähig ist.«
Während der Diskussion über den Supercomputer hatte der Systemarchitekt Fedor am Whiteboard begonnen, einen Lösungsansatz zu skizzieren. Obwohl auch er die genauen Voraussetzungen und Randbedingungen für den Auftrag noch nicht kannte, folgte seine Skizze einer zwingenden Logik. Es war nicht das erste Mal, dass sie in ein gut gesichertes System eindringen mussten. Das Vorgehen war grundsätzlich bekannt. Dieser Auftrag aber verlangte viel mehr als das simple Kopieren fremder Daten oder die Lähmung des Systems durch ›denial of service‹ Attacken. Diesmal mussten sie die Kontrolle über das ganze Peripherie-Subsystem übernehmen, das die Daten verwaltete. Nur so war es möglich, den Auftrag des Unbekannten auszuführen. Fedors Skizze zeigte wie immer klar und ohne unnötigen Schnickschnack einen plausiblen Weg auf, wie sie dieses Ziel erreichen könnten. Andrei nickte zufrieden.
»Khorosho! Nehmen wir das als Arbeitshypothese.«
Er benutzte die Skizze, um die Aufgaben zuzuordnen, eine Arbeitsteilung, die sowieso aufgrund ihrer unterschiedlichen Fertigkeiten auf der Hand lag.
»Ganz zentral ist der Trojaner, der lang genug unentdeckt bleiben muss«, fuhr er fort. »Visel?«
Vladimir nickte. »Hab‘s begriffen.«
Trojaner gehörten zu seinen Spezialitäten. Er besaß eine ansehnliche Sammlung solcher Softwarekomponenten für alle möglichen Betriebssysteme. Sein Design erlaubte es ihm, die Schadsoftware mit wenigen Parametern für den jeweiligen Zweck umzuprogrammieren. Er war ein professioneller Hacker, der Software produzierte, um ein Ziel zu erreichen, kein Bastler, der zum Zeitvertreib an Spaghetti-Code herumschraubte.
Andrei kopierte die Information aus dem Tablet auf den Datenserver, damit sie arbeiten konnten. Bis spät nachts sprachen sie kaum mehr ein Wort miteinander, dann verließen zuerst die Brüder Melnikov den Bunker. Andrei folgte. Er versuchte vergeblich, seine Freundin Fisik zu überzeugen, ihn zu begleiten, um über die Angelegenheit zu schlafen. Beischlafen sollte es wohl besser heißen. Gegen Mitternacht stellte Vladimir verblüfft fest, dass er fast allein im Bunker saß. Fisik schien vor ihren Bildschirmen eingenickt zu sein. Den Kopf auf einer Kabelrolle, hing sie in ihrem Sessel und rührte sich nicht. Nur die Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er beachtete sie nicht weiter.
Eine Minute vor der Geisterstunde zog er sein zweites Handy aus dem Geheimfach und begann zu tippen. Der auf Englisch abgefasste Text war kurz wie jede SMS an die heimliche Geliebte, die so unerreichbar weit entfernt lebte.
Ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Liebste. Ich denke jeden Tag an unsere Nacht in Sankt Petersburg.
Jene Nacht im Hotel war nicht nur die schönste, sondern vor allem die einzige Erinnerung an sie, die Bezeichnung Geliebte also eine ziemlich unverschämte Übertreibung. Aber sie hatte bisher alle seine Kosenamen ohne Weiteres akzeptiert und stets rasch und warmherzig auf die etwas hölzernen Texte reagiert. Das fachte die Flamme in seinem Herzen jedes Mal aufs Neue an. Kaum war die SMS abgeschickt, stand Fisik sozusagen auf seinen Füßen. Mit einem anzüglichen Lächeln fragte sie:
»Du vögelst doch nicht etwa mit einer heimlichen Geliebten?«
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