Hansjörg Anderegg - Vernichten

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Information kann tödlich sein. Vladimir Lukov ist Hacker, ein Profi, und er hat seine Seele dem Teufel verkauft.
»Vernichten!«, lautet der hoch bezahlte Auftrag an die Hacker in Sankt Petersburg. Im Europol Operational Centre in Den Haag gehen die Lichter aus. Hauptkommissarin Chris Roberts vom Bundeskriminalamt tappt im Dunkeln wie der halbe Polizeiapparat Europas. Die Ermittlungen gegen den international organisierten Kinderhandel versanden, bis sie die Spur nach Sankt Petersburg entdeckt. Lukov ist der Schlüssel. Die gnadenlose Jagd beginnt und wird sie für immer verändern.

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Er sparte sich die Antwort, steckte den Zündschlüssel ein und fuhr ab.

»Der Strafzettel steckt im Handschuhfach«, sagte sie.

Er war nicht der einzige. Einmal im Monat räumte er das Fach und warf die Zettel in den Müll.

»Hat deine Unterhaltung mit Madame Matulis wenigstens etwas mit dem Fall zu tun?«, fragte er schnippisch.

»Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Waffe ist. Jedenfalls bleibt sie bei der Geschichte, die wir von Lukas Matulis kennen. Damals wurden sechs wertvolle Ikonen gestohlen, was die Versicherung eine Stange Geld gekostet haben muss.«

»Ich weiß, aber er besitzt ja noch genug von dem Zeugs, wie ich gesehen habe.«

Nachdem sie eine Weile schweigend weitergefahren waren, nahm er einen neuen Anlauf:

»In dieser Galerie stinkt etwas gewaltig. Wir sollten irgendwie an Matulis dranbleiben.«

»Wie denn? Was glaubst du, würde die Staatsanwaltschaft dazu sagen oder unser lieber Chef? Willst du unbedingt Streife fahren?«

Sie hatte ja recht – aber tausend Euro für einen kleinen Teddybären?

Sankt Petersburg, Russland

Vladimir Lukov trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern. Die Warteschlange vor der Kasse der einzigen vernünftigen Stolowaja im weiten Umkreis wuchs schneller als er zählen konnte, dem Internet sei Dank. Die ganze Bande der Touristen schien sich in diesem einen Lokal mit hundert ›Likes‹ zu versammeln, um sich vor einer weiteren langen Nacht den Bauch für ein paar Rubel vollzuschlagen. Er dachte fast ein wenig wehmütig an die Zeit des Eisernen Vorhangs zurück, die er nur vom Hörensagen kannte. Damals gab es wenigstens keine Touristen – sonst auch nichts, aber das war eine andere Geschichte.

Die Blondine vor ihm klaubte umständlich ihr letztes Kleingeld zusammen für den Salat, der schon zu welken begann. Wozu sich ärgern? Sein Schaschlik war bereits auf dem halben Weg zur Kasse kalt geworden. Selbst das Glas mit dem Tschai fühlte sich nur noch handwarm an. Eine warme Mahlzeit innerhalb von 24 Stunden, das war eigentlich das Ziel, vor allem eine Mahlzeit, zu der man die Zähne benötigte. Ihn schauderte beim Gedanken an die faden Suppen, von denen sich seine kranke Mutter zu Hause ernährte. Sie lebte nur noch von Suppe und Papirossi, den unsäglichen russischen Zigaretten mit dem Kartonröhrchen anstelle eines anständigen Filters. Für Mamotschka spielte das leider keine Rolle mehr. Ihre Lunge musste längst schwarz sein wie eine Kohlengrube, und jetzt war auch noch Krebs im Endstadium diagnostiziert worden. Sie hustete und rauchte und fluchte nur noch in den dreißig Quadratmetern im Plattenbau, schlürfte hin und wieder etwas Suppe, die auch nach Papirossi stank, und trank Wodka, wenn sie Durst bekam. In Situationen wie dieser erinnerte er sich gerne an die trostlosen Zustände zu Hause. Das wirkte wie eine rosa Brille, durch die selbst eine hoffnungslos überfüllte Stolowaja mit kaltem Schaschlik ihren Charme versprühte.

Das Fleisch am Spieß beschäftigte seine Zähne länger als geplant. Er musste sich beeilen, um die Apotheke noch vor Ladenschluss zu erreichen. Die starken Schmerzmittel bekam er nur dort, auf Rezept und dank dem sanften Druck seines Ersatzvaters Sergei Churkin. Die Familie Churkin, für die seine Mutter jahrelang geputzt hatte, bis es nicht mehr ging, hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen, nicht zuletzt als Kameraden für den eigenen Sohn Andrei, mit dem niemand sonst spielen wollte. Vater Churkin war ein einflussreicher und daher gefürchteter Apparatschik mit Verbindungen in höchste Regierungskreise. Das machte ihn in den Augen vieler Leute äußerst verdächtig. Man mied die Familie. Dennoch florierte sein Handelsgeschäft mit Büros an bester Lage am Petrogradskaya Damm. Jedenfalls schwamm Churkin im Geld, hatte seine Ausbildung bezahlt, kam jetzt für die Kosten der teuren Medikamente auf und war für ihn der beste Vater, den er je gehabt hatte – auch der einzige.

Die Apothekerin war dabei, das Geschäft abzuschließen, als er auftauchte. Sie gab ihm die drei Schachteln im Beutel mit dem üblichen Seufzer:

»Ihre Mutter gehört in ein Krankenhaus.«

»Ich weiß, aber auf diesem Ohr ist sie taub.«

Seine übliche Antwort. Mamotschka war noch nicht alt, viel zu jung zum Sterben, aber keine zehn Pferde würden sie in ein Krankenhaus bringen oder überhaupt aus den dreißig Quadratmetern im Plattenbau vertreiben. Sie hätte längst komfortabel und umsonst in Churkins Datscha wohnen können, aber sie hörte gar nicht hin, wenn er davon anfing. Sie hauste lieber in ihrem Loch, umgeben von den wenigen Freunden, die ihr geblieben waren.

Die Metro fuhr nicht einmal in die Nähe der Siedlung aus der Sowjetzeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit gefühlten hundert anderen bedauernswerten Passagieren in den Bus pferchen zu lassen. In Sekundenschnelle schwamm er im eigenen Schweiß. Möglicherweise war es der Schweiß der anderen, so genau konnte man das nicht unterscheiden. Es war Hochsommer in Sankt Petersburg und in diesen verdammten Dingern herrschte drinnen wie draußen stets dieselbe Temperatur, als hätte noch niemand Klimaanlagen erfunden. Er hatte vergessen oder verdrängt, wie schlimm die Busfahrt zur Siedlung in der heißen Jahreszeit sein konnte, denn seit er volljährig war, fuhr er mit dem alten Lada zur Arbeit, den sein Freund Andrei Churkin gegen die Mercedes S-Klasse eingetauscht hatte. Leider war das Vehikel nun an den Spätfolgen von Andreis Rennen im holprigen Gelände um die Datscha krepiert. Er musste sich dringend um Ersatz kümmern.

Das Hemd klebte am Körper, nasse Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht wie nach einem Bad in der Newa, als er in der Siedlung ankam. Lautlos wie ein Schatten huschte er an der Tür der Nachbarin vorbei. Er hatte die Wohnung schon fast erreicht, als er den gefürchteten Klick hinter seinem Rücken hörte. Nachbarin Milena war wie stets auf der Lauer und stand eine Sekunde später bei ihm.

»Sie hat heute wieder gar nichts gegessen, Wowotschka«, sagte sie vorwurfsvoll, als hätte er die Suppe verweigert.

Milena und seine Mutter waren die einzigen Menschen, die ihn so nennen durften, schließlich kannten sie ihn seit der Geburt.

»So geht es nicht weiter, mein Junge. Sie muss ins Krankenhaus.«

»Du weißt ja, wie sie reagiert. Sie ist stur wie eine Achtzigjährige.«

»Wem sagst du das, aber so wird sie sterben.«

Er war es überdrüssig, darüber zu reden, solang er doch nichts ändern konnte.

»Sterben müssen wir alle«, antwortete er unwirsch und betrat die Wohnung.

»Bist du das, Wowotschka?«, rief die Mutter, begleitet von trockenem Husten.

Ihrer schleppenden Ausdrucksweise entnahm er, dass die gute Marinka Lukova ziemlich durstig gewesen sein musste. Auch dagegen war er machtlos. Das gute Salär ermöglichte ihm wenigstens, dafür zu sorgen, dass sie anständigen Wodka soff. Statt zu antworten, eilte er ans Fenster, um den abgestandenen Rauch hinauszulassen.

»Willst du mich umbringen?«

Sie schaltete den Ton des Fernsehers aus und betrachtete ihn mit wässrigen Augen.

»Komm her, mein Junge, gib deiner Mamotschka ein Küsschen.«

Er tat ihr den Gefallen, löste sich aber sofort wieder aus ihrer Umarmung.

»Ich bin doch kein kleiner Junge mehr«, sagte er ärgerlich.

»Wo warst du denn die ganze Zeit? Und wie du aussiehst! Ganz verschwitzt.«

»Danke für den Hinweis. Ich war arbeiten. Dein Wowotschka hat einen Job, schon vergessen? Manchmal kann man den Computer nicht einfach um fünf abschalten in meinem Beruf. Das würde Sergei gar nicht gefallen.«

»Ach, Papa Churkin«, seufzte sie und führte die Flasche zum Mund, »ein guter Mann. Weißt du, was er für dich getan hat? Das werde ich ihm nie vergessen.«

Natürlich wusste er es. Er war ja selbst dabei gewesen, sozusagen. Die Antwort sparte er sich. Sie wollte die Geschichte sowieso ungefähr jeden Tag einmal erzählen.

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