Ich bin zwar Vegetarier, doch ich denke, dass ich mich diesmal etwas anpassen muss. Die Töpfe sind voll mit Gemüse, Nudeln und Fisch. Ich versuche, die Fischstücke so gut wie möglich zu vermeiden, und fülle meine Schale mit dem Rest. Zusätzlich gibt es noch genügend Reis, an dem man sich sattessen kann. Und Misosuppe. Und Natto – eine streng riechende Beilage aus fermentierten Sojabohnen. Das erste Mal, als ich Natto kostete, war vor zwölf Jahren, als ich meinen Bruder besuchte und er den Ekiden für seine Schule am Tag nach dem Nacktfest lief. Ich konnte es damals nicht ausstehen, und die Japaner machen sich einen Spaß daraus, es unbedarften Fremden vorzusetzen und es sie probieren zu lassen. Abgesehen davon, dass es nach nassen, stinkenden Stiefeln riecht, ist es auch noch mit einem ekeligen Schleim bedeckt. Doch heute probiere ich es zum zweiten Mal, und irgendwie schmeckt es gar nicht einmal schlecht.
„Natto strotzt nur so von gesunden Bakterien“, meint Max. Genauso wie Miso.
„Die japanische Küche kennt viele fermentierte Gerichte, so wie diese hier“, erklärt Max. „Sie fördern die Produktion guter Mikroorganismen in deiner Darmflora, die wiederum deine Verdauung anregen, was wichtig für die Gesundheit und das generelle Wohlbefinden ist. Speziell für Sportler ist das gut, denn sie können dadurch mehr Energie aufnehmen.“
Alle Sportler, die ich in Japan treffe, folgen einer ziemlich traditionellen japanischen Ernährungsweise aus Reis, Misosuppe, Natto, Seetang, Fisch, Buchweizennudeln, Tofu und Gemüse als Basisnahrungsmittel ihres täglichen Essens. Jeden Tag essen sie eine Kombination daraus zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Das ist eine unglaublich gesunde Ernährung, die auch dazu beiträgt, dass Japan eines der gesündesten Länder der Erde ist. Das Land hat nicht nur die höchste Lebenserwartung, wie ja weithin bekannt ist, sondern in einer 2013 von der UNO erstellten Liste der übergewichtigsten Staaten der Ersten Welt hatte Japan mit einem Anteil von nur 4,5 Prozent von übergewichtigen Menschen in der erwachsenen Bevölkerung den niedrigsten Wert. Im Vergleich dazu belegte Großbritannien mit 24,9 Prozent an übergewichtigen Erwachsenen Platz 23. 4
Eine weitere großangelegte Studie der American Heart Association im Jahr 2013 fand heraus, dass Kinder in den entwickelten Ländern heute im Schnitt etwa 90 Sekunden länger brauchen, um eine Meile zu laufen, als noch vor 30 Jahren. Ein gewisser Verlust an Fitness wurde in allen Staaten der Ersten Welt festgestellt, bis auf einen: Japan, wo die Kinder und Jugendlichen heute schneller laufen als noch ihre Eltern. Obwohl dies natürlich auch teilweise auf die Bedeutung des Sports an den Schulen zurückzuführen ist, so kann man davon ausgehen, dass eine gesunde Ernährung bei solch niedrigen Zahlen ebenfalls eine Rolle spielt.
Natürlich existieren in Japan auch industriell hergestellte Frühstückszerealien, Sandwiches, Burger, Pizzas und anderes ungesundes Essen, doch sind sie nicht so allgegenwärtig wie in der westlichen Welt, und sie bilden keinesfalls die Basis der Ernährung der Menschen.
Weizen, eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel in Europa und Amerika, das über die letzten Jahre als ungesunde, problematische Nahrungsressource in Kritik geraten ist, wird in Japan weitaus seltener gegessen. Wenn man in Japan im Supermarkt einen Laib Brot kaufen will, bekommt man nur drei Scheiben abgepacktes Brot. Für meine Kinder, die gerne Toast zum Frühstück essen, bedeutet das, dass wir fast immer das ganze Regal leerräumen, wenn wir einkaufen gehen.
Zudem sind die Portionen in Japan generell kleiner als in der westlichen Welt. Einmal bemerke ich in einem Restaurant, dass man Pommes frites als Beilage zu einem Gericht bestellen kann. Da kann ich nicht widerstehen. Als ich dann mein Essen bekomme, liegen da genau drei Pommes in einer winzigen Schüssel.
Es gibt zahlreiche Studien, die die Auswirkung der Portionsgröße auf unsere Essgewohnheiten untersucht haben, und alle kamen zu dem wenig überraschenden Ergebnis: Wenn man einer Person eine größere Portion von etwas anbietet, isst diese Person auch mehr. In einer Studie wurde sogar 14 Tage altes, schales Popcorn verwendet. Diejenigen, die eine größere Portion bekamen, aßen auch mehr davon, selbst wenn sie danach zugaben, dass es scheußlich schmeckte. Kleinere Portionen und weniger Kalorien sind zurzeit Modebegriffe im Gesundheitsbewusstsein der westlichen Welt. Doch genau diese Dinge werden in Japan schon seit langem praktiziert. Die gängige japanische Phrase „Hara hachi bu“ bedeutete so viel wie „Iss, bis du zu 80 Prozent satt bist“.
Außerdem verhindert das Essen mit Essstäbchen, dass man sich über-isst, denn man ist gezwungen, langsamer zu essen, was wiederum bedeutet, dass man sich schneller satt fühlt. Inzwischen bin ich es gewohnt, mit Stäbchen zu essen, und wann auch immer ich die Gelegenheit habe, mit einer Gabel zu essen, kommt es mir so vor, als würde ich das Essen wie ein gieriges Monster in mich hineinstopfen.
Raffinierter Zucker, eines der schlechtesten Nahrungsmittel, die man essen kann, und das unserem Körper seine Energie entzieht und laut Robert Lustig, dem bekannten Kinderarzt und Professor für Neuroendokrinologie, besser als Gift eingestuft werden sollte, wird in Japan auch weit weniger verwendet. So ist es in Japan nicht so wie in unseren Breitengraden üblich, eine Mahlzeit mit einem süßen Dessert zu beenden. Im Ritsumeikan-Trainingscamp steht überhaupt kein Zucker auf dem Speisplan.
Aber lassen wir die Kirche einmal Dorf. Auch Japan ist nicht perfekt, und es gibt genügend Läden, die Unmengen an farbenfrohem und grell verpacktem Junkfood verkaufen. Doch selbst dort sind Schokoriegel und Tüten mit Süßigkeiten kleiner als in anderen Ländern. Dazu kommt, dass salzige Snacks nicht aus Chips oder Wurstsemmeln bestehen, sondern aus Reisbällchen, die mit fermentierten Pflaumen oder Fisch gefüllt und in Seetang oder Tofu eingewickelt sind.
Ich habe einmal den angesehenen Ernährungswissenschaftler Tim Noakes dazu befragt, was er von der japanischen Kost hält und ob diese Ernährungsweise der Verbesserung der sportlichen Leistung dienen könnte. Seine Antwort war, dass sich diese Ernährung „großartig“ anhört.
Dr. Kevin Currell, der Leiter der Abteilung für Performance Nutrition am English Institute of Sport, stimmt dem zu: „Es ist eine exzellente Kombination aus Nahrungsmitteln für jeden Athleten. Die richtige Mixtur aus Kohlenhydraten, Proteinen und Gemüse – und am wichtigsten ist, dass das Essen von guter Qualität und frisch zubereitet ist, denke ich. Das ist die Ernährungsweise, die wir unseren Athleten empfehlen würden.“
Nach meinen sechs Monaten in Japan, in denen ich mich größtenteils von der traditionellen japanischen Küche ernährte – außer zum Frühstück, wenn ich Toast und Porridge aß, weil mein Gaumen am Morgen so sehr an Süßes gewöhnt ist –, wog ich weniger als jemals zuvor in meinem Erwachsenenleben (67 Kilo – als wir von England losfuhren, hatte ich 73 Kilo). Obwohl ich einen großen Teil dieser sechs Monate mit Laufen verbrachte, trainierte ich aber nicht härter als in den letzten beiden Jahren zuvor in England. Selbst als ich für den London Marathon trainierte und wirklich viel lief, wog ich nie unter 71 Kilo.
Nach dem Abendessen ziehen sich die Athleten auf ihre Zimmer zurück. Max und ich haben ein Zimmer, das wir uns teilen. Es ist im typisch japanischen Stil gehalten und besteht aus einem Boden mit Tatamimatten und einem Schrank mit Bettzeug. Für Max und mich ist es noch zu früh, schlafen zu gehen, und so erkunden wir in unseren Hausschuhen ein wenig das Haus.
Unten wurde ein Behandlungsraum eingerichtet. Die Tür steht offen, und ich stecke meinen Kopf hinein. Auf dem Tisch wird gerade einer der Läufer von einem Trainer massiert. Eine Assistentin, eine Studentin, massiert einen anderen Läufer, der am Boden liegt. Ein gedrungener Student mit Brille untersucht derweilen sein Knie mit einem Ultraschallgerät, während der Rest derer, die sich in dem Raum befinden, rundherum am Boden sitzen und sich unterhalten. Kenji sitzt auch am Boden. Sein Laptop steht geöffnet vor ihm, und er gibt die gestoppten Zeiten von heute in eine Tabelle ein.
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