Ich mache mir viele Notizen. Das ist richtig interessant. Kenji Takaos Leitfaden für Ekiden.
Schließlich ist es an der Zeit, laufen zu gehen. Kenjis Trainerteam – er hat drei Assistenten – erklärt das heutige Training an der Tafel. Sie nennen es ein „40-Minuten Build-up“. Im Prinzip heißt das, dass wir 20 Minuten lang mit niedrigem Tempo unterwegs sind und dann immer schneller werden.
Dann geben uns die Trainer das Signal, und wir machen uns auf den Weg. Eine Schwadron altersschwacher Läufer, die sich langsam durch den beleuchteten Korridor zu den Aufzügen bewegt. Als sich die Aufzugstür im Erdgeschoß öffnet, mache ich den Fehler und steige als Erster aus. Max erklärt mir, dass ich Kenji den Vortritt hätte lassen sollen, da er die wichtigste Person der Gruppe ist.
„Ist nicht so schlimm, das konntest du nicht wissen“, beruhigt er mich. Es ist schwierig zu erkennen, ob ich jemanden vor den Kopf gestoßen habe. Doch niemand scheint es mir vorzuhalten. Alle unterhalten sich so wie vorher, als wir in die schwüle Nacht hinaustreten und eine Seitengasse hinter dem Gebäude bis zum Eingang eines Parks entlangjoggen. Aus dem dunklen Blätterwald der Bäume, nicht weit von uns weg, erhebt sich ein riesiges mehrstöckiges Gebäude in den Himmel.
„Die Burg von Osaka“, sagt Kenji stolz.
Ein prächtiger Anblick.
„ Sugoi “, antworte ich. Fantastisch .
Im Park tummeln sich überall Läufer, die den gleichen Weg, der teilweise um die Burg herumführt, immer wieder vor- und zurücklaufen. Sie laufen meist in Gruppen und joggen langsam vor sich hin.
Wir mischen uns unter die Masse der Jogger, bleiben aber in unserer großen Gruppe zusammen. Das Tempo ist sehr langsam. Einige unserer Begleiter bringen den Mut auf, mir die eine oder andere Frage zu stellen, die Max sehr ausführlich beantwortet. Ich habe keine Ahnung, was er ihnen alles erzählt, doch ich höre ihre „Oohs“ und „Aahs“ und sehe, wie sie mich anblicken, so als ob ich große Dinge vollbracht hätte. Ich gebe es auf, Max darum zu bitten, immer alles zu wiederholen, und vertraue darauf, dass er ihnen das richtige Bild eines Engländers vermittelt, der ein Buch schreibt und als Erster einen Lift verlässt.
Nach genau 20 Minuten erhöht sich das Tempo, und unsere Gruppe beginnt sich auseinanderzuziehen. Der Weg führt für etwa eineinhalb Kilometer in einem Bogen um die Burg, und so laufen wir immer wieder die gleiche Strecke auf und ab. Ich fühle mich gut und laufe in der schnellsten Gruppe, die von Morita angeführt wird. Ich erwarte jeden Moment, dass sich das Tempo nun Schritt für Schritt verschärft, doch es bleibt gleich, bei etwa sieben Minuten für die anderthalb Kilometer. Ich kann mir nicht helfen, aber in der letzten Minute starte ich los und lasse die anderen hinter mir zurück. Über die Jahre hinweg war ich Mitglied in vielen verschiedenen Laufvereinen, und am Anfang ist es immer etwas kompliziert. Jeder Verein hat seine eigene Hackordnung, und das Letzte, was sie wollen, ist, dass irgendein Neuling daherkommt und alles über den Haufen wirft.
Ich erinnere mich, als ich meinem Klub in Devon beitrat, kurz nachdem ich aus Kenia zurückgekommen war. Der Vorsitzende des Vereins fragte mich, ob ich viel liefe, und ich erzählte ihm, dass ich gerade sechs Monate in Kenia verbracht hatte. Dort war ich einen Marathon in 3:20 Stunden gelaufen. Doch das war an einem ziemlich heißen Tag. Auf einer Staubstraße. Auf einer Seehöhe von über 1500 Metern.
„Gut, dann stecke ich dich in Gruppe 3“, sagte er.
Auf der Vereinswebseite hatte ich gelesen, dass sie fünf Gruppen hatten, wobei Gruppe 1 die langsamste war und Gruppe 5 die schnellste. Gruppe 3 kam mir persönlich ein wenig langsam vor.
„In Kenia habe ich mit Wilson Kipsang trainiert“, protestierte ich. „Sechs Monate lang.“
Er runzelte die Stirn und musterte mich.
„Na gut, dann kommst du eben mit mir in Gruppe 4“, lenkte er ein.
Wir liefen in einer kleinen Gruppe mit gemütlichem Tempo hinunter an die Küste von Torquay. Frisch zurück vom Höhentraining in Kenia konnte ich es nicht erwarten, schneller zu laufen. Genau an diesem Punkt wurden wir von einem Rudel schnellerer Läufer überholt, die auf die Straße auswichen, um an uns vorbeizukommen.
„Wer sind die?“, fragte ich den Vereinspräsidenten.
„Das sind die Fünfer“, erwiderte er.
Das sah mehr nach meinem Tempo aus. Zudem war es auch eine recht große Gruppe. Ich hatte das Gefühl, dass mir hier etwas entging.
„Darf ich mich denen anschließen?“
„Die werden aber nicht auf dich warten, wenn du nicht mithalten kannst“, antwortete er. „Wir schon.“
Ich zögerte für einen Moment. Ich konnte sehen, dass es ihn ärgerte, zu denken, dass ich es besser wüsste. Zugegeben, 3:20 war jetzt nicht gerade eine besonders beeindruckende Marathonzeit, doch man muss auch die schwierigen Bedingungen bedenken. Bevor die Gruppe endgültig weg war, traf ich meine Entscheidung.
„Ich riskiere es einfach“, sagte ich und sprintete den Fünfern hinterher.
Schlussendlich war es kein Problem. Die Gruppe war gut, doch es fiel mir recht leicht, ihr Tempo zu halten. Hinterher erntete ich jedoch ziemlich böse Blicke vom Vereinsboss, aber er sagte kein Wort. Es dauerte Monate, bevor er mir diese Aktion verziehen hatte.
Hier in Osaka halte ich mich zurück und laufe in der Gruppe. Es wäre wohl respektlos, gleich bei meinem ersten Training allen davonzulaufen. Doch dieser Drang, einfach loszulaufen, die Beine das machen zu lassen, was sie wollen, ist zu stark. Am Schluss stehen alle herum und schütteln ihren Kopf darüber, dass ich so schnell gelaufen bin. Max, der bereits eine Runde vor Schluss ausgestiegen ist, steht daneben und lacht. Der Einzige, der kein Wort sagt, ist Morita. Er wirft mir einen finsteren Blick von unter seinen Haaren zu.
Ich muss zugeben, dass ich darüber überrascht bin, so weit vor den anderen zu sein. Ich bin nicht einmal annähernd in Bestform und habe immer noch Probleme mit der hohen Luftfeuchtigkeit, die hier herrscht. Ich frage mich, wo all die schnellen Läufer sind. Sind das alles Profis? In Japan gibt es ungefähr 1500 Profiläufer, die bei verschiedenen Unternehmen unter Vertrag stehen, um dort für das jeweilige Ekiden-Team zu laufen. Im Vereinigten Königreich, das etwa die Hälfte der Bevölkerung Japans hat, gibt es wahrscheinlich weniger als 20 professionelle Langstreckenläufer, Sportler, die mit Laufen ihr Geld verdienen. Das heißt, dass viele der talentiertesten Sportler Großbritanniens einer normalen Arbeit nachgehen und sogar dafür bezahlen, abends im Laufverein laufen zu dürfen. Wären diese Topläufer hier in Japan Profis? Wäre ich Japaner, hätte ich dann vielleicht sogar meinen Lebensunterhalt mit Laufen bestreiten können?
Dieser Level an Professionalität in Japan erklärt zum Teil auch die Diskrepanz zwischen den beiden Nationen, wenn man einen Blick auf die Ergebnisse wirft. Britische Spitzenläufer wären wohl deutlich schneller, wenn sie mehr Zeit und Ressourcen ins Training stecken könnten, und viele andere hätten einen Ansporn, ihr Talent zu entwickeln. Stattdessen müssen die meisten Läufer ihr Training irgendwo zwischen Job und Familie hineinquetschen. In den meisten Fällen fehlt die Motivation, laufen zu gehen oder früh aufzustehen, um die eine oder andere zusätzliche Trainingseinheit einzulegen beziehungsweise Geld für Massagen auszugeben und die Tiefenmuskulatur im Fitnesscenter zu trainieren. Auch für die besten Läufer in Großbritannien ist Laufen meist nur ein Hobby. In Japan, andererseits, kann es für diejenigen, die ein gewisses Niveau haben, eine solide Karriereoption sein, mit professionellen Trainern, Sponsoring und Anerkennung.
Als wir uns schweißgebadet auf dem Weg zurück zum Dawn Center befinden, erzählt mir Max, dass er sehr zufrieden mit seinem Lauf sei. Er meint, dass es für den Anfang recht gut sei.
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