Bei meiner ersten Fahrt zum Campus der Ritsumeikan-Universität sitze ich auf der Rückbank von Kenjis Wagen. Er holt mich und Max vom Bahnhof ab. Am Beifahrersitz sitzt eine Schülerin aus der Realschule.
„Osaka, Nummer zwei“, sagt er stolz.
Anscheinend ist sie die zweitschnellste 3000-Meter-Läuferin ihrer Altersklasse im nahe gelegenen Osaka. Kenji hat sie unter seine Fittiche genommen und setzt große Hoffnungen in sie.
„Olympische Spiele in Tokio“, sagt er, und seine Augen leuchten dabei vor Freude.
Das Mädchen lächelt nur höflich.
Als wir das Tor zum Universitätscampus passieren, läuft das Damenteam gerade in einer großen Gruppe auf der Bahn. Sie laufen alle in diesem typischen Stil, den alle japanischen Läuferinnen haben. Dieser Stil mag zwar effektiv sein, doch er sieht sehr unspektakulär aus. Aus der Ferne betrachtet, könnte das auch eine Gruppe von Joggerinnen sein, und nicht eine der stärksten Damenlaufstaffeln der Welt.
Leider hat die Trainerin des Damenteams ihren Athletinnen verboten, mit Kenji oder irgendjemand anderem aus dem Männerteam zu sprechen. Sie will nicht, dass ihre Mädchen abgelenkt werden oder vom Weg abkommen. Einmal, einige Monate später, stoßen wir auf zwei der Läuferinnen in der Ritsumeikan-Kantine. Sie sind freundlich, blicken sich aber immer wieder um, ob sie vielleicht beobachtet werden. Schließlich haben sie zu viel Angst davor, dabei gesehen zu werden, wie sie mit uns reden, und verlassen uns.
Kenji lacht, als ich ihn frage, ob es mir erlaubt wäre, eine der Läuferinnen zu interviewen.
„Nein, nein“, winkt er ab und schüttelt den Kopf.
Er parkt sein Auto neben den Publikumsbänken aus Beton am Rande der Laufbahn, wo sich das Herrenteam versammelt hat und sich angeregt unterhält, während sie auf ausgebreiteten Gummimatten Dehnungsübungen machen.
„ Os “, murmeln sie, als wir uns nähern.
Kenji trägt mehrere Schnellhefter und Clipboards, macht einen Witz und kichert in sich hinein. Einige der Läufer lächeln gequält, doch die meisten fahren mit ihren Dehnungsübungen fort.
Ich bin nicht sicher, ob sie mich erwartet haben. Max sagte mir, dass Kenji kein Problem damit hätte, wenn ich mich mit seinem Team unterhalten und vielleicht sogar mit ihm laufen wolle, also bin ich in meinem Trainingsoutfit gekommen. Auch Max ist bereit, mitzulaufen.
„Lass uns sehen, was passiert“, meint er.
Nachdem Kenji alle begrüßt hat, stellt er uns seinem Teamkapitän, Daichi Hosoda, vor. Daichi hat lange Haare, die er offen trägt, und ein breites, jugendliches Lächeln. Er gibt uns die Hand, verbeugt sich höflich und heißt uns beim Training willkommen. Insgesamt besteht das Ekiden-Team aus ungefähr 30 Läufern. Kenji erklärt, dass das heutige Abendtraining aus einem 15-Kilometer-Zeitlauf in der Gruppe besteht. Er fragt, ob wir mitmachen wollen.
„ Ju Kilo “, schlägt er vor, ein entschärftes Training für Max und mich. Zehn Kilometer . „Okay?“
Es ist ein Tempo von etwa vier Minuten pro Kilometer geplant, deutlich schneller als das der Amateurgruppe. Allerdings nicht so schnell, dass ich nicht über zehn Kilometer mithalten könnte. Nach unserer einmonatigen Reise nach Japan habe ich bereits zwei Wochen Lauftraining intus, und ich fühle, wie meine Fitness langsam wiederkehrt. Die Strecke ist ein 1,25 Kilometer langer Straßenabschnitt, den wir auf und ab laufen. Somit kommen wir immer nach 2,5 Kilometern am Start vorbei, was uns genügend Möglichkeiten gibt, auszusteigen, wenn es uns zu viel wird. Es ist ein ziemlich heißer Abend, doch die Luftfeuchtigkeit ist im Gegensatz zu den vorherigen Wochen etwas niedriger.
Bevor es losgeht, bilden wir zusammen einen großen Kreis, und Kenji stellt Max und mich offiziell vor. Er erklärt seinen Schützlingen, dass sie sich nicht scheuen sollen, mit uns zu reden. Einer aus dem Team fragt uns sofort nach unserem Alter. Max sagt, dass ich 39 Jahre alt sei und er 35. Der Mann, der die Frage gestellt hat, sagt etwas darauf, worauf Max etwas erwidert, und alle zu lachen beginnen.
„Was hat er gesagt?“, frage ich Max.
„Er hat gesagt, ich sehe viel jünger aus“, antwortet Max lachend.
Ich bekomme keine Komplimente, und so gehen wir hinüber zum Start, wo wir uns schnell aufstellen und alle ihre Uhren einstellen. Und nach noch einmal Durchzählen und ein paar aufmunternden Worten geht es los. Ich suche mir einen Platz in der Mitte der Gruppe. Vorne an der Spitze läuft der Kapitän des Teams. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit höherem Tempo in einer Gruppe gelaufen bin, und es fühlt sich gut an, zurück in einem Rudel mit anderen zu sein und das rhythmische Geräusch unserer Schritte auf dem Asphalt zu hören. Alle laufen ohne Anstrengung, doch keiner spricht auch nur ein Wort. Die Herausforderung kommt erst. Jetzt heißt es erst einmal abwarten und sich in Geduld üben.
Die Straße schlängelt sich um die Rückseite der Universität, vorbei an Tennisplätzen und ein paar größeren Parkplätzen. Dann erreichen wir einen am Boden markierten Punkt, drehen um und laufen wieder zurück.
Max kommt uns entgegen. Er musste abreißen lassen, doch er gibt noch immer alles. In seinem Gesicht sieht man förmlich die Anstrengung, und er ignoriert uns, als wir vorüberlaufen. Als wir wieder am Start ankommen und auf die zweite Runde gehen, ruft uns ein Team an Betreuern und Trainern unsere Zeiten zu. Einer von ihnen, der Teamtrainer, macht Fotos mit einem iPad.
Und so geht es auf die zweite Runde. Erst jetzt registriere ich, dass es beim Hinlaufen leicht bergauf geht. Inzwischen macht sich die schwüle Nacht, die sich immer mehr über mich legt und mir die Energie aus den Beinen saugt, immer mehr bemerkbar. Ich merke, wie ich langsam ans Ende des Feldes zurückfalle. Bergab, am Rückweg zum Start, bemühe ich mich, an der Gruppe dranzubleiben, doch ich spüre, wie ich mich anstrengen muss.
Als wir auf die dritte Runde gehen, falle ich zusammen mit einem anderen Läufer zurück. Ich blicke zu ihm hinüber. Er sieht mich an. Sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt, und er sieht nervös aus.
Mein Vorteil ist, dass ich jederzeit stehen bleiben kann. Die anderen warten nur darauf, bis es so weit ist. Ich bin kein Läufer. Ich bin ein Autor. Ich mache das hier nur zum Spaß. Dieser Gedanke ist in solchen Momenten, wenn es hart auf hart geht und meine Beine darauf drängen, langsamer zu werden, immer ein Trost. Andererseits schwingt aber auch eine gewisse Enttäuschung mit. In meiner eigenen Vorstellung bin ich ein Läufer. Allerdings nur so lange, bis ich es mit richtigen Läufern zu tun bekomme. Diese Erfahrung kann dann ziemlich demotivierend sein.
Doch der Bursche neben mir läuft um seine Zukunft, um seinen Platz im Team. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er seinen Platz an dieser Uni aufgrund seiner läuferischen Leistung in der Schule bekommen hat. Vielleicht hofft er sogar, Profi zu werden. Vor dem Training hat mir einer der anderen Studenten erzählt, dass die meisten hier im Team hoffen, nach der Uni einmal Profi zu werden. Das ist der Weg, den sie verfolgen. Doch nicht alle würden es auch schaffen.
Mein nervöser Begleiter und ich absolvieren zusammen die dritte Runde, bevor ich erschöpft aufgebe. Er läuft tapfer weiter und macht sich auf die vierte Runde. Als sich das Tempo erhöht, beginnen nun auch andere Läufer am Ende der Gruppe zurückzufallen. Noch immer führt der Teamkapitän das Feld an.
Ich blicke auf meine Uhr. Ich bin 7,5 Kilometer in 30 Minuten gelaufen. Ich schwöre mir, dass ich das nächste Mal zehn Kilometer durchhalten werde.
Während wir auf die Läufer warten, fragt mich Kenji, ob die Kenianer auch im Gänsemarsch laufen.
„Nicht wirklich“, erkläre ich ihm.
Anstatt auf einem kurzen Straßenabschnitt auf und ab zu laufen, laufen die Kenianer kilometerlang auf staubigen, unbefestigten Wegen. Sie laufen eigentlich so gut wie nie auf Asphalt, wenn sie es vermeiden können.
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