Wegen der Probleme meiner Töchter, sich in der Schule einzuleben, lasse ich meine Entscheidung, nach Japan zu gehen, noch einmal Revue passieren. Bis jetzt habe ich noch keinen der großen Läufer getroffen, doch wenn man sich die Ergebnislisten ansieht, dann weiß ich, dass irgendwer irgendwo etwas richtig gemacht haben muss. Ich muss nur tiefer graben und es finden. Warum ist das so interessant?
Nun, einerseits macht es mich neugierig, warum Langstreckenlaufen hier ein so beliebter Sport bei den Zuschauern ist. In anderen Teilen der Welt interessieren sich wirklich nur die fanatischsten Fans für Langstreckenrennen. Die meisten Menschen, die in Europa oder den USA Marathons verfolgen, kennen nicht einmal die Namen der Läufer, die in der Spitzengruppe laufen. Sie interessieren sich fast nur für ihre Freunde oder Verwandten, die irgendwo ihm großen Feld oder weiter hinten laufen. Die Führenden sind nur als Benchmark interessant, eine Projektion davon, was möglich ist. Es ist schon beeindruckend, sie laufen zu sehen, doch ihre Namen, ihre Geschichten oder Rivalitäten sind irrelevant. In Japan sind diese Eliteläufer jedoch große Stars.
Der andere Grund, der die Kultur des Laufsports in Japan so faszinierend macht, ist meine Chance, etwas Neues zu lernen, etwas, das mir helfen kann, mich als Läufer weiterzuentwickeln. Oft werde ich gefragt, wie sich mein Laufen nach den sechs Monaten in Kenia verändert hat. Die Wahrheit ist: fast gar nicht. Kenia hat mich dazu inspiriert, öfter laufen zu gehen und die Leidenschaft und den Enthusiasmus, die dort geherrscht haben, für mein eigenes Training zu übernehmen. Doch einige dieser Schlüsselfaktoren, die diese Läufer so großartig machen, kann ich einfach nicht kopieren. In Kenia auf dem Land aufzuwachsen, jeden Tag zur Schule zu laufen, hinunter zum Fluss, zu den Feldern, und das alles barfuß und auf einer Höhe von über 2000 Metern.
Andererseits ist das in Japan ja auch nicht der Fall. Die japanische Gesellschaft ist, betrachtet man Komfort und Bequemlichkeit – Dinge wie Fernsehen, Autos, Büros, die unsere Fähigkeit zu laufen verkümmern lassen –, der in Großbritannien sehr ähnlich. Zumindest oberflächlich betrachtet. Trotzdem gibt es Tausende von superschnellen Läufern in Japan. Warum? Es ist eine faszinierende Frage, und mein nächster Stopp auf der Suche nach einer Antwort darauf ist die Ritsumeikan-Universität in Kyoto.
Wenn man an der Ritsumeikan-Universität am Rande von Kyoto ankommt, so sieht man als Erstes eine Laufbahn. Die Bahn liegt in einer mit Gras bepflanzten Senke vor den Hauptgebäuden. Alle, die mit den endlosen Shuttlebussen von und zur Zugstation ankommen oder abfahren, sehen die Laufbahn und die Athleten, die darauf laufen. Es ist eine ständige Erinnerung an die zentrale Rolle, die der Sport, und im Speziellen das Laufen, an japanischen Universitäten einnimmt.
Zusätzlich zu seinem Amateurverein Blooming hat Kenji vor Kurzem begonnen, die Ekiden-Teams der Männer an der Ritsumeikan-Universität zu trainieren. Diese Mannschaft ist eine der größten außerhalb Tokios und Umgebung.
In Japan sind Universitätsteams die beliebtesten Ekiden-Teams. Das liegt zum Teil daran, dass – wie Kenji es schon seinen Läufern von Blooming gesagt hat – die Profimannschaften zu berechenbar und die Rennen dadurch nicht mehr so aufregend sind. Doch zum Großteil liegt es am Hakone.
Im Herzen des japanischen Laufsports gibt es einen Wettbewerb, eine Veranstaltung, die weit über allen anderen steht: der Hakone Ekiden. Schon jetzt taucht dieser Name bereits überall auf, doch erst am Ende meiner sechs Monate in Japan weiß ich, wie viel Drama und Bedeutung bei diesem Wort mitschwingen. Ich sehe, wie die Leute reagieren, wenn ich dieses Wort erwähne, wie ihre Augen größer werden.
„ Ikimasu“ , sage ich dann ganz ehrfürchtig zu ihnen, ich werde dort sein , so als ginge es um eine Pilgerreise ins Heilige Land. Wenn sie mich das sagen hören, wissen sie, wie ernst ich es meine.
Der Hakone ist nicht nur der größte Wettbewerb im japanischen Rennkalender, er ist die größte jährliche Sportveranstaltung in Japan. Das Rennen dauert über zwei Tage und erreicht normalerweise Einschaltquoten von fast 30 Prozent im japanischen Fernsehen. Die Quoten sind ähnlich denen des Super Bowl in den USA und höher als die eines FA-Cupfinales in Großbritannien. Dazu kommt, dass dieses Event am 2. und 3. Jänner stattfindet, zur Hauptsendezeit, wenn die Menschen nach den Neujahrsfeiern noch frei haben.
Zusätzlich zu den Zusehern vor den Bildschirmen sind die Straßen entlang der 217,9 Kilometer langen Strecke mit unzähligen Zuschauern gesäumt. Es ist wirklich episch.
Schon Monate vor dem Rennen erhalten wir Werbung in unserem Briefkasten in Kyotanabe, die zum Kauf von Hakone-Merchandise anregen soll: Handtücher, Jacken, Baseballkappen. Sapporo bringt für diesen Anlass sogar ein Bier auf den Markt.
Der Hakone Ekiden reicht weit über die Grenzen des Laufsports hinaus und spricht auch Leute an, die sich normalerweise nicht fürs Laufen interessieren. Es ist eine landesweite Veranstaltung. Wahrscheinlich ist es sogar der meistgesehene Laufwettbewerb der Welt. Doch so wie ein schwarzes Loch alles, was ihm zu nahe kommt, verschlingt, so bringt auch die ungeheure Popularität des Hakone Ekiden einiges an Problemen für den japanischen Laufsport mit sich.
So sind zum Hakone ausschließlich männliche Universitätsmannschaften aus Japans Kanto-Region, der Gegend rund um Tokio, zugelassen. Im Grunde genommen ist es also ein lokaler Laufwettbewerb zwischen Universitäten. Und da wären wir schon einmal beim ersten Problem, nämlich, dass dieser Wettbewerb alle anderen Universitäten des Landes, auch Kenjis Ritsumeikan in Kyoto, die sich in der Region Kansai befindet, von vornherein ausschließt.
Natürlich wollen die besten Läufer in den Schulen den Hakone laufen. Das bedeutet, dass ein Coach wie Kenji, der nach Läufern für seine Nicht-Hakone-Universität sucht, sich mit den Burschen begnügen muss, die von den Hakone-Teams übriggelassen wurden, nachdem sie sich die größten Talente einverleibt haben. Natürlich gibt es auch immer wieder Spätzünder oder Läufer, die sich in der Schule verletzt oder dort das Training nicht ernst genug genommen haben und ihr Talent erst später entwickeln, doch im Großen und Ganzen werden die Topläufer aus den Sekundarschulen auch zu den Topläufern an den Universitäten.
Das Ergebnis ist ein unüberwindbares Zweiklassensystem: Unis aus der Region Kanto und diejenigen, die sich nicht in der Region Kanto befinden.
Was Universitäten in Kanto alles tun, um den Hakone zu gewinnen, kann man anhand eines Gebäudes sehen, das für das Gewinnerteam von 2012, die Toyo-Universität, errichtet wurde und knapp vor meiner Ankunft in Japan eingeweiht wurde. Die Universität hat ihrem Ekiden-Team ein eigenes, hypermodernes Hauptquartier gebaut, mit Fitnessraum, Whirlpool, Eisbad, Speisesaal und genügend Schlafräumen für 100 Personen. Das Gebäude befindet sich neben der Laufbahn der Universität, wobei die Schlafräume allerdings alle in Richtung eines nahe gelegenen Parks blicken.
„Wenn du die ganze Zeit nur die Laufbahn siehst, kannst du nicht richtig abschalten“, erklärte der Toyo-Cheftrainer, der eine Schlüsselrolle bei der Planung dieses Gebäudes gespielt hat.
Interessanterweise hat der Hakone genau den gegenteiligen Effekt, wenn es um den Ekiden bei den Damen geht. Während die Universitäten der Region Kanto alles in ihre Herrenteams stecken, in der Hoffnung, beim Hakone zu glänzen, vernachlässigen sie ihre Damenteams. Und da die Universitäten im Rest des Landes keinen Hakone haben, stecken sie mehr Zeit und Geld in ihre Damenmannschaften, was darin resultiert, dass die besten Ekiden-Teams bei den Damen von Universitäten stammen, die nicht am Hakone teilnehmen. Das beste von allen ist das Damenteam der Ritsumeikan, die Landesmeister von 2012, die mit sieben Meistertiteln auch den Rekord halten.
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