Eckerds Stimme bebte unter dem Gewicht seiner Worte. »… wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser täglich Josef gib uns heute …«
Elmar schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Eckerd zuckte zusammen, doch dann setzte er sich gerade auf, um größer zu wirken. »Ich weiß, wir sind Schweinebauern, und mit Essen spielt man nicht. Aber können wir nicht wenigstens zwei für die Show lassen?«
»Nein.«
»Ich werde Zirkusdirektor. Dann müsst ihr keine Schweine mehr keulen, und ich muss nicht immer von vorn anfangen.«
»Eckerd.«
»Ja, ich weiß. Iss deinen Josef. «
Elmar sah Bernhard verächtlich an. »Da siehst du, was du alles falsch gemacht hast.«
Bernhard sah aus, als müsste er dringend schlafen. »Er versucht nur, mit der Sache umzugehen.«
»Mit was für einer Sache?«
»Dass du ausgerechnet ein Schwein aus seiner Show keulen musstest.«
»Das reißt sonst noch ein mit diesen Shows.«
»Du sagst ihm jetzt was Aufmunterndes.« Bernhard zischte in Elmars Ohr, wie er es sich sonst nicht traute. »Sofort.«
Elmar zischte zurück. »Sonst was? Du machst hier nichts außer trauern.«
»Sag ihm was Nettes, oder du fährst morgen alleine Heu ein.«
Elmar kämpfte mit sich, dann senkte er seine Stimme eine halbe Oktave zu einem großväterlichen Bariton. »Schau, Eckerd … Wir keulen die Schweine nicht einfach nur so. Wir bringen sie in den Schweinehimmel . Schweine sind eigentlich Himmelswesen. Sie mögen es hier auf der Erde nicht besonders. Es macht sie traurig. Und wenn die Trauer ein Schwein besonders schlimm erwischt, keulen wir es, und seine Seele schwebt nach oben in den Schweinehimmel.«
Bernhard verdrehte die Augen. »Wirklich unglaublich aufmunternd.«
»Ich fand das toll damals.«
Eckerd stocherte in Josef.
»Das habe ich nicht gewusst, Opa. War Josef so traurig? Ich dachte, wo wir jeden Tag zusammen geübt haben …«
»Glaub mir, mit der Zeit bekommt man einen Blick dafür.«
»Armer Josef.« Eckerd stand auf und drückte Elmar so fest er konnte. »Danke Opa. Danke, dass du ihm geholfen hast.«
Elmar erstarrte unter Eckerds Umarmung, als sich sein Blick mit dem von Bernhard kreuzte. Eine Zeit lang herrschte Schweigen.
Eckerd ließ Elmar los. »Haben wir Mama eigentlich auch gegessen?«
Elmar sprang auf und starrte auf Bernhard herab. »Das reicht! Wenn du aus deinem Sohn keinen ordentlichen Schweinebauern machen kannst – ich kann.«
Bernhards rot geränderte Augen suchten Hilfe bei Colette, aber sie sah nur den Trauerflor, der ihr nicht gefiel. Bernhard räusperte sich. »Er verarbeitet die Dinge. Das ist doch … gut.«
»Eckerd, morgen um sieben machen wir einen Schweinebauern aus dir. Im Schuppen.«
Eckerd tauschte Blicke mit Marthe. Er verschränkte die Arme. »Ich werde Zirkusdirektor.«
Elmar wechselte in einen Ton, dem man nicht widersprach. »Punkt sieben.«
»Können wir eine aufmachen? Bitte!« Eckerd und Marthe sahen Elmar flehentlich an.
Er nickte. Zehn Kokosnüsse lagen auf dem groben Holztisch in der Mitte der Scheune. Elmar gefiel nicht, dass Marthe dabei war, aber Eckerd hatte darauf bestanden, und sie hatte sich nicht verscheuchen lassen.
Das große, offene Scheunentor bot einen herrlichen Blick auf die weiten Wiesen, auf denen die Schweine in der aufgehenden Sonne ihre Nasen durch das betaute Gras pflügten.
Elmar stellte eine alte, längliche Holzschatulle vor Eckerd auf den Tisch. Sein Blick verklärte sich, als seine Finger die Furchen der Bauernschnitzereien nachfuhren.
»Weißt du, was das ist?«
»Der Kasten, den ich nicht anfassen soll.«
Elmar legte eine Hand auf Eckerds Schulter. Er lächelte milde. »Heute darfst du ihn anfassen. Du darfst ihn sogar aufmachen.«
»Echt?«
Elmar nickte.
Ehrfürchtig schob Eckerd den Deckel auf. »Das geht ja ganz leicht.«
»Weil er schon so oft aufgemacht worden ist. Von meinem Vater und davor von seinem Vater. Und davor … schau hinein.«
Eckerd stellte sich auf die Zehenspitzen und sah in die Schatulle.
Auf einem Bett aus Sackleinen lag eine mehr als unterarmlange, gedrechselte Keule. Ihre Form war ihrer Aufgabe perfekt angepasst, mit einem Griff, der sich in der Mitte verdickte, um Fingern und Daumen guten Halt zu bieten, und einem kleinen Heft, damit man die Keule nicht zu weit in der Mitte fasste. Das Schlagende der Keule war doppelt so dick wie der Griff, den ein Knauf aus weißem Porzellan zierte. Er hatte die Form einer Schweinenase.
Elmar leuchtete vor Enthusiasmus. »Das ist das Zepter eines Schweinebauern.«
»Was ist ein Septa?«
»Ein Zepter ist eine Krone für die Faust. Nimm sie.«
»Ehrlich?«
Elmar nickte gütig.
Eckerd hielt den Atem an, als er die Keule aus der Schatulle hob. Er hielt sie wie ein Schwert vor sich. Marthe sah bewundernd zu ihm auf. Elmars kleine gelbe Augen leuchteten.
»Sie macht stark. Wenn du sie hältst, weißt du, was zu tun ist.«
Elmar legte einen Ring aus Stroh auf den Hackklotz, auf dem Brennholz gespalten wurde. In den Strohring legte er eine Kokosnuss und darauf ein altes Handtuch, das er zuvor drei Mal gefaltet hatte. Er nahm Eckerd die Keule aus der Hand.
»Es muss genau so ein Geräusch machen …«
Elmar holte nur wenig aus und schlug die Keule in einer schnellen, flüssigen Bewegung auf die Mitte des Handtuchs. Die Kokosnuss darunter gab einen trockenen Knacks von sich. Eckerd zuckte zusammen. Elmar klappte das Handtuch zur Seite. Die harte Schale der Kokosnuss war in alle Richtungen geborsten.
»… dann ist es richtig.«
Der Schlag hatte das Fruchtfleisch komplett von der Schale gelöst. Elmar gab Eckerd ein großes Stück. Eckerd gab Marthe eine Hälfte, dann aß er mit Genuss. Marthe knabberte skeptisch ein winziges Stück ab, schüttelte sich und spuckte es aus. Den Rest gab sie Eckerd zurück.
Elmar legte eine zweite Kokosnuss auf den Strohring, verdeckte sie mit dem Handtuch, legte Eckerd die Keule in die Hand und trat zur Seite.
»Halte sie ganz locker, dann macht sie die Arbeit für dich.«
Eckerd umfasste den Griff der Keule lose, hielt sie einen Moment über den Kopf und nahm Maß. Dann schlug er auf das Handtuch, unter dem es trocken knackte.
Elmar schlug das Handtuch zur Seite. Die Kokosnuss war rund um den Schlagpunkt sternförmig geborsten. Marthe schaute Eckerd mit riesigen Augen an. Elmar lachte gackernd.
»Na. Was für n Zufall.«
Elmar legte eine weitere Kokosnuss auf und bedeckte sie. »Wir machen immer die Scheune auf, damit sie rausgucken können. Das mögen sie. Und dann …«
Eckerd schlug ansatzlos zu.
»… gehen sie auf die Reise …«
Elmar bedeutete Marthe, das Handtuch zu lüften. Sie zupfte es mit spitzen Fingern zur Seite. Die Kokosnuss war rundherum geborsten.
Elmar nickte bedeutsam. Eckerd hielt ihm die Keule hin, damit er sie ihm wieder abnahm.
Elmar winkte ab. »So viel ist sicher. Du hast das Zeug, den Hof zu führen.«
Eckerd errötete. Er legte die Keule zurück in den Kasten. »Und was ist mit Papa?«
»Der ist nicht dazu gemacht.« Elmar trat aus dem Tor auf die saftige Wiese. »Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, zu was er gemacht ist.«
Elmar spürte die warmen Strahlen der frühen Sonne auf der Haut. Er hatte es gewusst. Der Junge war ein würdiger Nachfolger.
Ganz anders als Bernhard, der Schwächling.
Es würde noch dauern müssen, aber Eckerd würde dem verfallenen Hof wieder zu neuer Blüte verhelfen. Zusammen mit der ernsthaften Marthe. Die beiden waren seltsam. Aber die ganze Welt war seltsam. Vielleicht war auch nur er selbst seltsam.
Elmar spürte einen Ruck in der Brust. Wie bei seinem rostigen Traktor, wenn er den Motor anhielt. Mit einem Mal nahm Elmar die reichen Düfte der Wiese so intensiv wahr wie lange nicht mehr.
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