Das Wort „Krise“ setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen. Ein Schriftzeichen bedeutet Gefahr. Das andere heißt Gelegenheit. – Doch Gelegenheit wozu? – Das herauszufinden liegt an uns. Hier ist jeder Einzelne von uns gefragt. Wir müssen uns bewusstwerden, dass letztlich jeder von uns irgendwie seinen Beitrag dazu geleistet hat.
Lassen Sie mich dazu mit Betrachtung meiner eigenen Krise ein Beispiel geben, wie mich mein Schicksal herausgefordert hat, um mich endlich dazu zu bringen, aufzuwachen und zu erkennen, wie ich selbst sowohl bewusst, als auch unbewusst zu meiner Krise beigetragen habe. Anfangs habe ich mich noch dagegen gewehrt, dass ich selbst der vermeintliche Verursacher sein soll. Es wäre doch viel einfacher gewesen, dem einen oder anderen die Schuld für dieses und jenes zu geben. Aber ich konnte die Geschichte drehen und wenden, letztlich hat sie mich immer und immer wieder zu mir selbst zurückgeführt. – Ja, ich weiß, es hört sich nicht schön an, wenn man gesagt bekommt, dass man selbst Täter und Opfer zugleich ist. Kann ich sehr gut verstehen, dass einem dieser Gedanke nicht gefällt. Schließlich habe ich es für mich selbst erlebt.
Lange habe ich überlegt, ob ich für dieses Beispiel mit meinem Namen stehen will. Im Grunde genommen ist es jedoch egal, denn ein Name ist nur ein Name. Nicht weniger, nicht mehr. Wenn ich dafür aber jemandem helfen kann, dann ist es mir dieses Bekenntnis zu meinen Fehlern wert. Schließlich sind wir alle hier, nicht um ein Geheimnis aus unseren Fehlern zu machen, sondern um aus ihnen zu lernen. Und außerdem weiß ich heute: Wenn’s weh tut, dann betrifft es nicht mein wahres Selbst, sondern dann fühlt sich nur und ausschließlich mein Ego verletzt. Und damit kann ich wiederum leben, denn letztlich ist es das Ego, das durch die Krise sterben soll. Schließlich hat es mich auf die Irr-Wege gebracht, die ich mir jetzt einmal aus anderer Perspektive heraus anzuschauen habe. Und dabei gibt es so manches zu entdecken, wie mein bisheriges Leben zeigt.
Was soll denn diese Krise? – Was bitte will sie von mir? – Habe ich sie gerufen?
Die Krise, die ich mit knapp 55 Jahren erlebt habe, forderte mich auf, meinen bisherigen Lebensentwurf, mein ganzes Denken, Handeln und Sein in Frage zu stellen. Es war wie ein Höllen-Schlund, der sich vor mir auftat. Und ich fiel direkt hinein. Konnte nichts stoppen. Ob ich wollte oder nicht, ich musste genau in dieses schwarze Loch hinein. Es schien keinen anderen Weg mehr zu geben als den, den ich vor mir sah. Und dieser Weg war ein sehr schmaler Grat. – Ein falscher Tritt. Und ich falle noch tiefer in diese schwarzen Untiefen hinein. – Was ist los? – Was soll ich hier? – Warum muss ich da durch? – Wollte ich das so? – ???
Dieses schwarze Loch forderte mich auf, in meinem Leben die Pause-Taste zu drücken. Innezuhalten. Einen Schritt zurückzutreten. Die Situation auszuhalten. Die Leere auszuhalten. Mich auszuhalten. – Ja, Sie lesen richtig. Mich selbst auszuhalten und mir anzusehen, was ist. Was ich mir da erschaffen hatte. Es will, dass ich mir mein bisheriges Leben ganz genau ansehe, damit ich erkenne, wann genau ich von meinem Weg abgekommen bin. Damit ich erkenne, in welchen Sog ich da geraten bin. Damit ich erkenne, was es zu korrigieren gilt. Dass ich aus meinen Fehlern lerne und dass ich die notwendigen Schritte der Veränderung gehe. Denn mein Leben schreit förmlich danach, dass es so nicht weitergeht. – Was tun? – Verzweiflung? – Resignation? – Aus dem Leben gehen? – Weitergehen?
Was hat eine Krise mit Krankheit und Tod gemeinsam?
Krise, Krankheit, Tod – wir haben sie verdrängt. Aus unserem Alltag, aus unserem Leben. Aus unserem Bewusstsein. Keiner will sie haben. Sie führen ein Schatten-Dasein. Dabei haben sie uns so viel zu sagen. Sie wollen mit uns eintreten in einen Dialog. Wollen mit uns kommunizieren. Fordern uns auf, uns näher mit ihnen zu befassen. Sie uns anzusehen. Ihre Botschaft zu verstehen. Sie fordern uns auf, uns ihrer bewusst zu werden. Sie wieder in unser Leben, in unser Sein zu integrieren. Denn trotz ihres bitteren Beigeschmacks gehören auch sie zum Leben insgesamt dazu. Sie wollen nicht ausgeklammert werden. Schließlich haben sie uns viel zu lehren. Doch um ihre Sprache, ihre Worte zu verstehen, bedarf es sehr viel Mut, Ausdauer und Geduld. Ihre Bewältigung kann uns gelingen, wenn wir bereit sind, in den Schmerz, den sie mit sich bringen, hineinzugehen, auf unsere innere Stimme zu hören und uns ihrer Führung anzuvertrauen.
Ihr Weg führt uns – so mein Erleben – direkt in die Höhle des Löwen hinein. Es dauerte seine Zeit, bis ich verstanden hatte, wer dieser „Löwe“ war: mein Unterbewusstsein. Ihm stand ich völlig entwaffnet, nackt und mittellos gegenüber. Mit weit aufgerissenem Maul ließ es mich in seinen „Löwen-Schlund“ („Höllen-Schlund“) schauen und fauchte mich mit Gift, Galle und feuerspeiendem Atem an. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie es mir bei diesem Anblick die Luft zum Atmen nahm. Ich fühlte mich fürs Erste mehr tot als lebendig. Voller Angst und am ganzen Körper zitternd wich ich anfangs vor diesem Ungeheuer zurück. Meine erste Reaktion: Panik und Flucht, als könnte ich vor ihm fliehen. – Es dauerte seine Zeit, bis ich in gebührendem Abstand zu ihm einen Platz fand, der mir so viel an Sicherheit bot, dass ich mich auf das, was unvermeidlich war, einlassen konnte. Natürlich entspringt dieses Bild meines Sturzes in die Höhle des Löwen meiner Phantasie, doch es beschreibt am ehesten meine Gefühle, sowie die Angst vor all dem Unbekannten, dem ich mich gegenübersah. So wie einem das Brüllen des Löwen durch Mark und Bein gehen kann, so bebte und zitterte auch ich am ganzen Körper. Musste erst lernen, mit all dem umzugehen, denn in dieser Höhle war nicht nur der Löwe. – Nein! – Da gab es noch so viele andere Fratzen und Gestalten. So viele Geister, die ich mit meiner Angst scheinbar heraufbeschwor. Sie alle sahen mich mit weit aufgerissenen Augen an. Zunächst erweckte es den Anschein, als hätten sie sich am liebsten gleich alle auf mich gestürzt. Zum Glück bewahrte mich mein Zusammenbruch davor und gewährte mir noch etwas Schonfrist.
Die unbändige Kraft dieser Geister, denen ich mich gegenübersah, erinnerte mich an meinen Lieblingshelden Odysseus aus Kindertagen. Wie er – auf seiner Rückreise nach Ithaka – sah auch ich mich einer Flut von Gefahren ausgesetzt. Lauerte auf ihn Skylla mit ihrem angsteinflößenden Heulen einer Hündin (ein Monster mit zwölf Armen und sechs Köpfen mit spitzen, scharfen Zähnen, die den Tod versprachen), so sah ich mich gegenüber dem zornentbrannten Löwen und all den Geistern ebenso in Gefahr. Doch so wie Odysseus keine andere Wahl hatte, als den Weg durch die Meerenge vorbei an Skylla zu nehmen, sah auch ich keine andere Wahl, als mich dem Unvermeidlichen hinzugeben, auch wenn ich nicht wusste, welche Ängste und Schrecken meine Geister unter ihren fratzenhaften Masken trugen, die sich mir erst nach und nach zu erkennen gaben. Das Einzige, was mir Trost versprach, war, dass die Geschichte meines Helden gut ausging. Und so hoffte ich, dass auch meine Reise gut ausgeht.
„Man muss durch die Nacht wandern,
wenn man die Morgenröte sehen will.“
Khalil Gibran
Wir sterben in unserem Leben nicht nur einen Tod
In Wirklichkeit ist jede Krise vergleichbar mit einem „kleinen Tod“. Krise und Tod verlangen von uns ein Hineingehen in die Welt der Schatten, in die Welt des Unbewussten. Sie bringen uns in tiefen Kontakt mit unseren Ängsten. Zeigen uns, was wir nur allzu gerne verdrängen. Konfrontieren uns mit dem, was wir nicht gerne sehen. Auch Odysseus, mein Held, stieg hinab in den Hades, in die Unterwelt. – Und je mehr wir aufgefordert sind, in dieses Unbekannte, in diese dunkle Welt hineinzugehen, umso mehr fordert sie uns auf, alles, was die äußere Welt repräsentiert, loszulassen. Und dieses Loslassen konfrontiert uns mit viel Trauer und Schmerz. So wie der Tod läutet jede Krise einen Abschied ein. Da gibt es kein Zurück. Eine Krise verlangt Abschied zu nehmen. Abschied von Menschen, Arbeitsplätzen, Lebenskonzepten, Selbstbildern und noch so vielem mehr. Und wie in einem Sterbeprozess durchlaufen wir in der Krise vier unterschiedliche Phasen, die uns letztlich aber wiederum zu ihrer Bewältigung dienen. Dabei gehen wir Schritt für Schritt, jeder für sich in seinem Tempo, den Weg vom anfänglichen Chaos über die Dysbalance wieder zurück in die Balance.
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