Und so hörte ich mit so ziemlich letzter Kraft auf dieses zarte Stimmchen und ließ mich darauf ein, in die Therapie zu gehen. Dabei folgte ich dem Gedanken, dass mir jemand auf dem Weg durch die Therapie vielleicht einen Strohhalm reichen kann, mit dessen Hilfe ich mich aus all dem Sumpf, aus all der Gefangenschaft befreien kann. Tja, und diese Stimme, sowie dieses Fünkchen „Hoffnung“, das ich damals noch in mir trug, brachten mich dann auf den Weg. Auf einen sehr unbequemen, oft sehr steinigen Weg. Über etliche Geröllfelder und Gletscherspalten hinweg. Doch mit jedem Schritt, den ich machte, selbst wenn dieser noch so angsterfüllt und unsicher war, hatte ich schon bald das Bild im Kopf, als wollte ich hiermit meinen ganz persönlichen Achttausender besteigen. Meinen eigenen Mount Everest, meinen eigenen „Höhenweg“. Dafür musste ich nicht einmal bis nach Nepal fahren. Diese „Erstbesteigung“ meiner Bergwand fand für mich in unmittelbarer Nähe statt. Und dies mir, die ich zwar sehr gerne und ausdauernd spazieren gehe, aber um mich als Bergsteigerin oder gar als Gipfelstürmerin zu bezeichnen, kann ich nur sagen: weit gefehlt!
Zunächst verlangte unser deutsches Gesundheitssystem, dass ich mich für eine ambulante Therapieform und für eine entsprechende Medikamenten-Einnahme entscheide. Nur so wäre ich nachfolgend berechtigt, überhaupt einen Klinikplatz zu erhalten. Zum Glück nannte mir der Arzt meiner ersten Krankschreibung eine Therapeutin, die so einfühlsam in meine Person war, dass ich nicht sofort vom Weg der Therapie abgeschreckt wurde, sondern mich nach und nach und von Sitzung zu Sitzung etwas mehr öffnen konnte, damit ich über all den Schmerz, die Trauer, die Demütigung, die bittere Enttäuschung, die Wut einfach nur einmal weinen konnte. Oft fand ich gar keine Worte, um meine Situation klar zu beschreiben, doch bereits das Weinen tat mir schon gut und war wie ein kleiner Türöffner für mich. – Doch die Einnahme von Medikamenten verweigerte ich. Von Monat zu Monat folgten weitere Krankschreibungen, die es mir möglich machten, mich dieser gesamten Situation hinzugeben und mich zum ersten Mal in meinem Leben ausschließlich um mich selbst zu kümmern, bzw. das, was von mir übrig war, zu beweinen. Nach drei Monaten stellte sich für mich dann eine Erleichterung hinsichtlich der Situation an meiner Schule dadurch ein, dass mir eine Neurologin, bei der ich zwischenzeitlich vorstellig geworden war, für den Rest des Jahres 2016 eine Krankschreibung ausstellte. So konnten meine schulischen Aufgaben unter meinen Konrektorinnen besser verteilt, und mein Unterrichtsausfall viel besser umorganisiert werden. Denn neben den Therapie-Sitzungen war zu dieser Zeit das Schlimmste für mich, dass ich meinen Dienstaufgaben nicht nachkommen konnte. Und es dauerte sehr lange für mich, bis ich mir selbst endlich das Recht zusprach, dass ich dienstunfähig, weil krank, ausgelaugt, erschöpft war. Und mich einfach am Ende sah. Zwar sprach die Diagnose bereits für sich. Doch diese kannten nur meine Konrektorinnen und mein unmittelbarer Dienstvorgesetzter.
Selbst wenn ich noch ein Fünkchen Kraft gehabt hätte, in die Schule gehen konnte ich einfach nicht. Zwar habe ich die Schüler, die Lehrer, die zahlreichen nicht vorhersagbaren „Unbekannten“, den ganzen Trubel eines Schulalltages schmerzlich vermisst – immerhin war dies ja die allerbeste Ablenkung für mich –, doch mir war auch klar, dass ich jetzt aufgefordert war, mich nicht länger um all die Situationen und Belange im Außen zu kümmern, sondern endlich meine eigenen „Hausaufgaben“ zu machen. Dennoch hielt ich in dieser ersten Zeit über das Telefon soweit mir möglich war noch engen Kontakt mit meinen Konrektorinnen und Sekretärinnen. Letztlich dauerte es dann bis Ende September 2016, bis ich einen stationären Therapieplatz angeboten bekam. Zum Glück hatte ich bis zu dieser Zeit neben meiner ambulanten Therapeutin noch eine wunderbare Heilpraktikerin an meiner Seite, die mir hilfreich und liebevoll zur Seite stand. Und in den ersten sechs Wochen der Klinik-Therapie wusste ich oftmals nicht mehr, ob dies alles überhaupt noch real war, was da mit mir geschah. So gut ich konnte ließ ich mich auf die therapeutischen Sitzungen und das klinische Begleitprogramm ein. Mein damalig erklärtes Ziel war, dass mich die Klinik-Ärzte wieder so weit dienstfähig machen sollten, dass ich ab Januar 2017 wieder meinen Schuldienst aufnehmen kann. – Den Therapieverlauf will ich Ihnen als Lektüre ersparen. Nur so viel sei gesagt: Ich hatte zum Glück eine gute ärztliche und therapeutische Versorgung. Vor allem kam ich zu einer Therapeutin, die für mich das Beste war, was mir passieren konnte. Sie hatte sozusagen das „Herz am rechten Fleck“ und arbeitete mit mir sehr mitfühlend und einfühlsam. War fast wie eine Mutter für mich. Sie spürte intuitiv, was mir am meisten fehlte.
Nach diesen sechs Wochen, die für mich rasend schnell vergangen waren, war ich insoweit wieder „hergestellt“, dass ich meinen Alltag mit mir alleine wieder relativ passabel bewältigen konnte. Doch ich hatte ja noch die restliche Zeit des Jahres (Mitte November bis Ende Dezember plus die Weihnachtsferien), um nun wieder selbst Sorge für mein Wohlergehen zu tragen. Anfangs gelang mir das auch ganz gut. Doch je näher das Jahresende und damit Weihnachten kam, umso mehr zerbrach ein Teil meiner noch sehr zarten Welt, die ich mir bis dahin wieder mühsam aufgebaut hatte, erneut. Um es mit einem Begriff aus der Therapie zu benennen, hatte ich wohl so etwas wie einen „Flash-Back“. Grund dafür war noch so viel Trauer und Schmerz, die in mir lebten. Sowie die unausweichliche Konfrontation mit der ernüchternden Tatsache, dass ich so ganz allein mit mir war. – Nach den Tagen des Angenommen-Seins und Betreut-Werdens in der Klinik, war ich in meinem Alltag wieder ganz auf mich alleine gestellt. Da war zu dieser Zeit in meinem näheren Umfeld niemand, auf den ich hätte zugehen oder bei dem ich mich gar hätte anlehnen oder ausweinen können. Und so fühlte ich mich unter den Menschen mal wieder ziemlich „mutterseelenallein“.
Mein treuester Lebensbegleiter war die Einsamkeit. – Wie ein verletztes Tier zog ich mich zurück, um all die Wunden zu lecken und um ja nicht erneut verletzt zu werden. Was ich brauchte war Zeit. Ganz viel Zeit und ganz viel Stille.
Unbewusst brachte ich mich selbst damit zwar in eine Art von Isolation, die mir manchmal auch brutal erschien, die mir letztlich aber auch – nachdem ich mich mit ihr ausgesöhnt hatte – ermöglichte, den Weg zu gehen, für den ich mich in Folge aus mir selbst heraus entschied. Da, wo ich früher viel zu viel auf andere gehört hatte und mein Denken und Tun oft auch nach ihnen ausgerichtet hatte, war ich jetzt gefordert, mich selbst endlich kennenzulernen. Mich selbst und meine grundlegendsten Bedürfnisse. Es war alles andere als leicht, die überhaupt erst einmal wieder zu spüren. – Zwar sehnte ich mich nach Freunden, doch ich konnte mich niemandem erschließen. Ich konnte mich nicht mitteilen, nicht öffnen. Mir war, als hätte ich meine Stimme verloren. Als könnte ich nicht mehr reden, und von daher von den anderen auch nicht mehr verstanden werden. Dabei wollte ich mich dem Leben und den Menschen durchaus wieder öffnen. Wollte auf sie zugehen. Mit ihnen verbunden sein. Mit ihnen so gerne mal wieder lachen, fröhlich sein, ausgelassen sein. Und noch so vieles mehr. – Kurzum: Einfach das Leben auch mal wieder genießen. Doch ich konnte nicht. Ich war wie festgezurrt. Eine Gefangene meiner selbst. Und so wurde ich immer mehr zu jemandem, der das Leben mit anderen nicht mehr teilen kann. Der weder am beruflichen, noch am privaten geselligen Leben Anteil nehmen kann. Und je mehr ich darum kämpfte, in ein soziales Leben zurück zu finden, umso schlimmer wurde es für mich. Ich wurde mit all meinen Versuchen immer wieder zurückgeworfen. Und da ich letztlich nur noch verzweifelt war, fühlte ich mich von dieser Welt „nicht verstanden“ und vor allem „nicht geliebt“. Das Annehmen der Situation, so wie sie nun einmal war, wurde somit zu meiner Pflicht. Ich konnte nicht länger vor mir selbst davonlaufen und mit mir selbst irgendwo in der geschäftigen Welt „Verstecken spielen“. Stattdessen wurde ich knallhart mit meiner Realität konfrontiert. Und das Landen in dieser Realität war alles andere als schön.
Читать дальше