Das tat ich jetzt auch. Anfangs lag ich auf dem Sofa und kicherte vor mich hin, während ich einen der Witze auswendig lernte. Anschließend baute ich mich vor dem ovalen Spiegel über der Kommode auf und übte, wie ich ihn vortragen würde.
»Da war mal ein Soldat, der hatte einen Stein im Schuh«, begann ich.
In diesem Moment klingelte das Telefon im Flur. Und kurz darauf betrat Mama ohne anzuklopfen den Salon.
»So, so, du lachst«, meinte sie.
»Klar, ich lerne gerade Witze auswendig«, sagte ich.
»Willst du einen hören?«
»Nein, jetzt nicht. Ich muss etwas mit dir besprechen, etwas, das nicht ganz so lustig ist. Weißt du, wer gerade angerufen hat?«
»Nein.«
»Percys Mutter. Sie war glänzender Laune.«
»Oh nein«, stöhnte ich.
»Doch, das war sie«, sagte Mama. »Sie war überglücklich, weil Percy uns besuchen würde und sie endlich mit ihrem Mann einen Campingurlaub machen könne, genau wie früher. Sie fragte, was Percy mitbringen soll, wenn er morgen kommt.«
»Morgen?«, wiederholte ich.
»Ja, genau, morgen«, sagte Mama. »Aber warum um Himmels willen hast du denn nichts davon gesagt, mein Junge?«
»Habʼs vergessen«, erklärte ich. »Hab in letzter Zeit so viel anderes zu tun gehabt.«
Und so war es ja auch.
Die Liebe sorgt zwar dafür, dass einem manches scheinbar Unwichtige im Gedächtnis bleibt, wie zum Beispiel ein Blick, ein Kopfsprung, ein Lachen, eine Armbewegung, der Duft eines Badetuchs.
Aber andere Sachen vertreibt sie dafür total aus dem Gedächtnis, nämlich zum Beispiel, dass man seinen besten Freund ins Haus seines cholerischen Großvaters eingeladen hat. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt noch wollte, dass Percy kommt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde er bei der Käfersuche und den Liebesdingen nur stören.
Mama schüttelte den Kopf.
»Manche Dinge darf man einfach nicht vergessen«, sagte sie. »Wenn Percys Mutter sich nicht so von Herzen gefreut hätte, hätte ich auf der Stelle Nein gesagt.«
»Aha«, sagte ich.
»Aber was hätte ich sagen sollen?«, fuhr sie fort. »Ich wurde ja völlig überrumpelt. Und dann ist morgen auch noch dein Geburtstag und alles.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Tu doch nicht so«, sagte Mama. »Alles Weitere besprechen wir beim Essen.«
Damit ging sie aus dem Zimmer. Ich angelte das Gebiss aus meiner Hosentasche und steckte es mir in den Mund. Als ich mich im Spiegel ansah, lächelten die Zähne von ganz allein. Ich sah echt komisch aus. Ha, ha!
Ich stieß ein heiseres Lachen aus, um mich selbst aufzumuntern. Dass ich meinen Geburtstag vergessen hatte, war bisher noch nie vorgekommen.
Dann ging ich in den Garten, sammelte zwölf Kohlweißlingsraupen in eine Tüte und überreichte sie Großvater, ohne auch nur eine Öre dafür zu verlangen. Ich zog zwei Eimer Wasser aus dem Brunnen. Ich lief zum Laden und kaufte Großmutter eine Schachtel Zigaretten.
Und ich bot Papa an, ihm bei seinem Kreuzworträtsel zu helfen. Aber das wollte er nicht.
Trotzdem war die Stimmung beim Abendessen nicht gerade berauschend. Im Nachbarhaus übte der Lehrer einen Choral für eine Beerdigung. Großvater kaute an seinen Schweinekoteletts. Wir Übrigen bekamen Dorsch in Eiersoße, auf Wunsch auch geriebenen Meerrettich dazu. Großmutter aß den Dorschkopf und stocherte mit gutem Appetit mit ihrer Gabel in dem gekochten Gehirn. »Was! Will Percy uns etwa besuchen?«, beschwerte sich mein Bruder. »Und wo soll dieser Idiot dann schlafen?
Als ob es nicht genug wäre, dass ich mit dem Dickwanst da das Zimmer teilen muss!«
Er deutete mit dem Messer auf mich.
»Na, na, Jan«, sagte Papa. »Ulf ist nicht dick. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass er sich in dieser Angelegenheit nicht korrekt verhalten hat. Ulf, eine solche Sache kannst du doch nicht einfach so selbstherrlich entscheiden, ist dir das klar?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich nicht so recht wusste, was selbstherrlich bedeutete. Jedenfalls begriff ich, dass es nichts Gutes war.
»Habe ich richtig gehört? Kommt noch jemand her?«, schrie Großvater, der schwerhörig war, vor allem wenn er sich aufs Essen konzentrierte.
»Ja, einer von Ulfs Klassenkameraden!«, erklärte Mama mit lauter Stimme. »Ein sehr netter Junge. Er heißt Percy und kommt morgen um zwölf mit dem Schiff.«
»Noch so ein Rotzbengel!«, brüllte Großvater, dass ihm die Soße nur so aus dem Mund spritzte. »Was glaubt ihr, was das hier ist? Eine Jugendherberge für dahergelaufene Lümmel?! Aber eins sag ich euch, wenn er mich ärgert, fährt er mit dem nächsten Schiff zurück, verstanden?«
»Warum musst du immer einen solchen Aufstand machen?«, fragte Großmutter.
»Weil«, sagte Großvater kauend. »Weil, weil … ich meine Ruhe haben will!«
Damit verließ er das Zimmer. Seine Koteletts nahm er mit.
Großmutter schob eine ihrer weichen weißen Locken aus der Stirn. Dann lutschte sie ein gekochtes Dorschauge aus, ihrer Ansicht nach das Beste vom ganzen Fisch. Meiner Ansicht nach schlimmer als ein Horrorfilm. Aber jetzt gerade machte es mir nicht so viel aus, weil ich an Percy denken musste.
Sogar bevor er überhaupt angekommen war, schaffte er es, alle auf die Palme zu bringen.
»Immerhin ist morgen mein Geburtstag«, sagte ich leise.
»Tja, besonders viele Geschenke wirst du wohl kaum kriegen«, meinte mein Bruder.
»Die kriege ich auch sonst meistens nicht«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach.
Das war eben der Nachteil, wenn man im Juli Geburtstag hatte. Im »Konsum« oder in Ströms Gemischtwarenladen gab es nicht viel Geschenkmäßiges zu kaufen. Meistens endete es mit einem Skizzenblock, einer Schachtel Wachskreiden, einem ordentlichen Stück Gutskäse und einer Tafel Schokolade. Käse wünschte ich mir jedes Jahr. Ich liebte Käse. Manchmal gab es auch etwas, das meine Eltern aus der Stadt mitgebracht hatten.
»Von mir kriegst du einen Pferdebiss«, flüsterte mein Bruder. Ein Pferdebiss, das war, wenn einem jemand auf den Oberschenkel schlug und anschließend fest zukniff.
»Danke«, sagte ich.
»Ja, vielen Dank für dieses wirklich schmackhafte Essen«, sagte Papa, und das, obwohl er die halbe Portion auf dem Teller gelassen hatte.
Mama stand in der Küche und machte den Abwasch. Papa kehrte zu seinem Kreuzworträtsel zurück. Großmutter hatte sich auf ihrem Lieblingsstuhl am Fenster niedergelassen. Da saß sie, blickte über die Bäume und das Wasser hinaus und rauchte eine Zigarette in einer langen Zigarettenspitze.
Der Rauch ringelte sich zur Decke hinauf, blauweiß wie ihr üppiges Haar, das am Hinterkopf hochgesteckt war. Sie saß aufrecht da und sah aus wie jemand aus einem französischen Film.
»Mach mir bitte einen Rauchring«, bat ich.
Ohne zu antworten machte sie einen. Ich stellte mich hinter ihren Rücken und spähte ebenfalls zum Fenster hinaus. Draußen stand Großvater mit seinem fleckigen alten Hut und buddelte noch einen weiteren Stein aus der Erde, das tat er fast immer. Er grub die Brocken heraus, um noch mehr Land für seine Beete zu bekommen. Mit zornigen, ruckhaften Bewegungen stieß er den Spaten in die Erde.
»Großmutter«, sagte ich.
»Ja, was ist?«
»Warum ist Großvater eigentlich immer wütend?«
»Er ist, wie er ist«, meinte sie.
»Ist er schon immer so gewesen?«
»Nein, anfangs vielleicht nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Als wir uns kennenlernten … da war er froh. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich ihn irgendwann genauso gernhaben würde wie er mich.«
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