Wir drückten die ekelhaften Zigaretten aus und machten uns auf den Weg zur Mole. Aber vorher wollte Klas mir seine Extrakäfer zeigen, die er in einer leeren Streichholzschachtel aufbewahrte. Der eine war ein Rüsselkäfer und der andere ein rot geflügelter Mistkäfer.
»Cool«, sagte ich und zeigte auf den Mistkäfer.
»Hab ihn in einem Kuhfladen gefunden.«
»Das riecht man«, sagte ich.
Bei der Mole wurde wie wild gebadet. Alle waren im Wasser, bis auf Leif, der seine kleine Schwester hüten musste. Und bis auf uns, weil wir keine Badehosen dabei hatten. Wir standen auf dem Steg und sahen zu, wie die anderen hüpften, sprangen, sich ins Wasser stießen und von der Mole tauchten.
»Da, guck mal!«, sagte ich.
»Was denn?«, fragte Klas.
»Pssst!«, sagte ich.
Ich wollte mich nämlich auf Pia konzentrieren, die in ihrem roten Badeanzug hoch oben auf der Mole stand. Sie hielt die Arme über den Kopf. Und dann sprang sie. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Wasseroberfläche erreichte. Wie ein feuerroter Traum schwebte sie durch die Luft. Die Sonne stach mir in die Augen, dass mir Tränen kamen. Ich wischte sie sofort mit dem Ärmel weg.
»Wollt ihr nicht auch baden?«, fragte Pia, als sie aus dem Wasser kam und uns sah.
»Nein, heute nicht«, sagte ich. »Hab meine Badehose vergessen.«
»Das ist doch egal. Du badest doch sonst auch mit Kleidern.«
Sie lächelte. Aber sie lachte nicht.
»Einmal am Tag reicht mir«, sagte ich.
»Kommst du bald mal mit zum Angeln?«, fragte sie.
»Wir müssen noch eine ziemliche Menge Käfer sammeln«, seufzte Klas.
»Ja, aber dann?«, fragte sie und kletterte wieder auf die Mole hinauf.
»Ja, dann«, sagte ich.
»Komm, wir gehen jetzt«, sagte Klas.
Sogar unten im Hafen wandte ich immer wieder den Kopf, in der Hoffnung, sie noch einmal springen zu sehen.
Ich konnte einfach nicht genug kriegen.
Ich untersuche Großvaters Schweinekoteletts und umarme einen Fisch
Mein Mein Bruder Bruder und und ich ich wohnten wohnten in in der Damenkajüte.
Das Haus meiner Großeltern bestand vor allem aus alten Schiffskajüten, die Großvater mit großen Schleppkähnen hatte hertransportieren lassen. Danach hatte er sie aneinandergefügt und Flure und eine Küche und alles Übrige angebaut, was man in einem Haus so benötigte. Großvater selbst wohnte in der Kapitänskajüte, meine Eltern residierten im Achtersalon und Großmutter bewohnte den Speisesaal. Und mein Bruder und ich hausten wie gesagt in der Damenkajüte. Das hätten wir allerdings niemals gestanden, selbst unter Folterandrohung nicht.
Wir behaupteten immer, wir würden im Weißen Salon wohnen. Unser Zimmer war tatsächlich ganz weiß, nur die Fenster waren mit blauen Leisten eingefasst. Und an den Wänden hingen Bilder von Schiffen in stürmischer See: Dampfer, Segelschiffe und Kriegsschiffe.
Mein Lieblingsbild zeigte ein graues Kanonenboot im Sturm.
»Zwölf«, flüsterte ich.
Inzwischen lagen wir nämlich mit gespitzten Ohren in unseren Stockbetten und zählten Großvaters Fürze. Hinter der Wand dröhnte es, als hätten die Kriegsschiffe auf den Bildern einander den Krieg erklärt und würden sich aus vollem Rohr beschießen.
Großvater klang sogar im Schlaf noch zornig.
»Das da war ein echter Prachtböller«, bemerkte Jan. Wir hatten Großvaters Fürze in eine selbst erschaffene Skala eingeteilt, die von den fast unhörbaren Mückenschleichern bis zu den Kanonenkrachern reichte. »Dreizehn«, sagte ich. »Heute Nacht bricht er garantiert seinen eigenen Rekord.«
»Er müsste an der Olympiade teilnehmen«, meinte Jan.
»Ja, oder im Kirchenchor mitmachen«, sagte ich. »Er hat einen Bauch wie ein Dudelsack.«
»Vierzehn«, zählte Jan.
»Kommt an seinen persönlichen Rekord heran«, entschied ich. »Jetzt ist bestimmt Schluss.«
»Ja«, sagte mein Bruder enttäuscht.
Doch da kam noch einer, zwar nur ein zahmes Damenfürzlein, das aber dennoch angerechnet wurde, da wir ja die Punktrichter waren. Wir erstickten fast vor Lachen, pressten aber den Mund ins Kissen, damit nichts zu hören war. Dann fing Großvater zu schnarchen an. Erst diskret wie ein Rasierapparat, dann wie ein schweres Motorrad.
»Jetzt ist Schluss mit lustig«, stellte Jan fest.
»Ja«, sagte ich. »Übrigens, hast du eine Ahnung, wo man Käfer finden kann?«
»Halt den Mund, jetzt wird geschlafen«, sagte er und steckte den Kopf unters Kissen.
Aber ich sah an die Decke und dachte an Pia. Zwischen zwei Schnarchern glaubte ich ihr heiseres Lachen zu hören. Und dann schlief ich ein.
In den folgenden Tagen suchten Klas und ich überall nach Käfern. Zwischen Großvaters Holzklötzen suchten wir nach dem Borkenkäfer und dem kurzflügeligen Weberbock, dann krochen wir auf der Jagd nach kleinen versteckten Rüsselkäfern über den Rasen des Dorfschullehrers und hörten dabei Musik. Der Lehrer spielte bei offenem Fenster Klavier, manchmal sang er dazu, und ab und zu hustete er.
Dann gingen wir weiter, an dem alten Schutzraum neben der Landstraße vorbei. Im Gras vor dem Eingang saß Leif mit seiner kleinen Schwester, vor sich hatten sie einen Haufen Tannenzapfen liegen, in die sie Hölzchen reinsteckten.
»Was machst du da?«, fragte ich. »Sind das Kühe?«
»Mann, das sind doch keine Kühe! Das sind Handgranaten!«, sagte er.
Dann warf er ein paar Zapfen auf uns und rief: »PENG! PENG!« Aber als wir ein Stück weitergegangen waren, hörte ich ihn »muh« sagen.
»Und wohin jetzt?«, fragte ich.
»Zu Östermans Komposthaufen, vielleicht finden wir da einen Nashornkäfer«, sagte Klas.
Und tatsächlich. Unter einem halb verfaulten Kohlblatt lag einer und schlief.
»Wahnsinn!«, brüllte Klas. »Ein Männchen. So ein Mordsdusel!«
Er deutete auf das Horn, das ganz vorne in die Luft ragte. Der Käfer sah wie ein schwarzes Mini-Nashorn aus. Klas erklärte, es könnte bis zu fünf Jahre dauern, bis die Raupen heranwuchsen und zu richtigen Insekten wurden. Er wusste auch, dass sie verfaulte Pflanzen fraßen und nur nachts wach waren. Er nahm den Käfer in die Hand und kraulte ihm beruhigend den Bauch.
»Weißt du, was das Gute an dir ist?«, sagte ich.
»Nö«, sagte er und steckte den Käfer in eine mit Äther gefüllte Dose, damit er in Frieden dahinscheiden konnte. »Das Gute an dir ist, dass man so viel lernt, wenn man mit dir unterwegs ist«, sagte ich. »Haben wir jetzt genügend Käfer gesammelt?«
»Nein, mir fehlen noch über acht Stück«, erklärte er.
»Wie wärʼs mit einer Rauchpause?«
»Dafür haben wir keine Zeit«, sagte ich, weil ich an Pia dachte und daran, dass ich mit ihr zum Angeln fahren würde, wenn wir unsere Käfer beisammenhatten.
»Ich muss jetzt sowieso zum Essen nach Hause«, sagte Klas.
Da fiel mir ein, dass ich das auch musste. Also blieben wir noch ein Weilchen sitzen. Klas rauchte seine Zigarette und gab sich große Mühe, so zu tun, als würde er jeden Zug genießen. Ich dagegen begnügte mich damit, den herrlich modrigen Geruch des Komposts einzuatmen.
Aus dem Stall hörten wir es dröhnen, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer dreinschlagen. Doch das war nur Blacky, das wahnsinnige Pferd des Bauern, das wie verrückt mit den Hufen gegen die Stallwand schlug. Es kickte und trat immer so lange, bis ein Loch im Holz entstand.
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