1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Der junge Mann lächelte nachsichtig. „Er war auch bei uns, und wir hatten einen coolen Abend miteinander“, meinte er. „Aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dabei hatten wir uns eigentlich für Sonntag bei mir verabredet, weil die Jungs Lukas von meiner Plattensammlung erzählt haben und er sie unbedingt mal sehen wollte. Aber er ist nicht gekommen und hat sich auch nicht gemeldet. Ich habe erst gedacht, er hat es verpennt, weil wir am Samstag schon ziemlich was gebechert hatten. Aber nachdem er heute bei der Arbeit auch nicht aufgetaucht ist und keiner was von ihm gehört hat, dachte ich, ich gucke mal lieber, ob bei ihm alles in Ordnung ist.“
„Oh“, machte ich überrascht und zermarterte mir das Hirn darüber, ob ich Lukas nicht doch gehört und es nur vergessen hatte. Er konnte ja nicht spurlos verschwunden sein.
„Hast du mal versucht, ihn anzurufen?“, fragte ich und fühlte mich ziemlich dumm und naiv, als er antwortete: „Ja, klar. Aber er ist nicht zu erreichen, sondern es geht sofort eine Bandansage ran.“
Merkwürdig, dachte ich, während in meinem Hinterkopf eine Erinnerung an die Pöbelszene von der S-Bahn-Haltestelle aufblitzte. Vor mir sah ich das Bild, wie der Anführer der Truppe Lukas mit der Hand vor die Brust stieß, doch ich verdrängte es schnell wieder. Was sollte diese Szene damit zu tun haben, dass Lukas nicht zu erreichen war? Er war am Samstag schließlich vollkommen unversehrt bei seinen Kollegen angekommen, selbst wenn diese Halbstarken an derselben Haltestelle wie er ausgestiegen waren.
„Ich kenne Lukas ja noch nicht lange, aber das passt nicht zu ihm“, fügte der junge Mann hinzu. „Er ist eigentlich eher so ein Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen kann, und keiner, der sich plötzlich wieder vom Acker macht.“
„Hmhmm“, murmelte ich nachdenklich. „Den Eindruck hatte ich auch. Aber als er bei euch war, war alles normal? Oder ist dir etwas Komisches aufgefallen?“
Er musterte mich neugierig, und ich fürchtete, mich damit etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Natürlich hätte ich ihm von dem Vorfall an der S-Bahn-Haltestelle erzählen können. Aber das tat hier doch gar nichts zur Sache, oder? Außerdem schämte ich mich dafür, dass ich an dem Abend nicht anders reagiert hatte.
Doch zu meiner Erleichterung schüttelte er gleich darauf entschieden den Kopf. „Nein. Im Gegenteil. Lukas war wie immer total gut drauf. Der Scherzkeks hat sogar behauptet, dass ihm Fußball komplett am Arsch vorbeigeht. Kannst du dir das vorstellen?“, feixte er, und ich konnte mir nur mühsam das Kichern verkneifen.
„Was du nicht sagst!“
„Ja. Schräg, oder? Jedenfalls haben wir das Spiel geguckt und danach etwas den Sieg gefeiert. Anschließend wollten ein paar von uns in der Innenstadt durch die Kneipen ziehen, aber Lukas hatte was mit einer Frau am Gange und ist geblieben. So wie die ihn angehimmelt hat, ging es wahrscheinlich bloß noch um das Zu-mir-oder-zu-dir, nachdem wir weg waren.“ Er verzog den Mund zu einem verunglückten Grinsen, in dem eindeutig etwas Neid lag.
Ich lachte leise und versuchte dabei, dieses eifersüchtige Pieken in meiner Brust zu ignorieren. Es war doch klar, dass einem Mann wie Lukas die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Und nur, weil er mit jeder von ihnen flirtete, musste das ja nicht gleich etwas zu bedeuten haben. Also atmete ich tief durch und konzentrierte mich wieder auf das eigentliche Problem, denn diese Aussage von seinem Kollegen erklärte trotzdem nicht, warum Lukas heute unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich die Haustür von innen geöffnet wurde und die alte Frau Schulze mit ihrem Rollator herauskam.
„Huch“, sagte sie, nachdem sie beinah in mich hineingelaufen wäre. „Entschuldigen Sie, Fräulein Anna. Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand vor der Tür steht.“ Sie blickte an mir vorbei zu Lukas‘ Kollegen. „Guten Tag, junger Mann.“
„Guten Tag“, grüßte er höflich zurück, hielt ihr die Tür auf und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Frau Schulze rührte sich jedoch nicht von der Stelle und musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß. Wahrscheinlich hielt sie ihn für meinen Liebhaber, und der musste natürlich erst mal genauestens unter die Lupe genommen werden, bevor er hier im Haus ein und aus gehen durfte.
„Frau Schulze, haben Sie Lukas Engelhardt heute zufällig schon gesehen?“, fragte ich schnell. Zum einen, um sie von irgendwelchen abwegigen Gedanken abzubringen. Zum anderen, weil der alten Frau selten entging, wenn jemand das Haus betrat oder verließ. In ihrer kleinen Erdgeschosswohnung hatte sie die beste Sicht auf den Eingangsbereich, und seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie leider kaum etwas anderes zu tun, als sich um das Leben ihrer Nachbarn zu kümmern.
„Den Herrn Engelhardt?“, überlegte sie laut. „Nein. Schon länger nicht mehr. Warum fragen Sie?“
„Nur so“, erwiderte ich ausweichend, um sie nicht zu beunruhigen. „Er hat anscheinend eine Verabredung vergessen, aber das kann ja mal vorkommen.“
Frau Schulze wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und meinte: „Jaja, immer diese jungen Leute. Haben einfach zu viel um die Ohren heutzutage. Aber eins sag ich Ihnen, Fräulein Anna: Passen Sie immer gut auf sich auf. Es gibt viele böse Menschen da draußen. Dieser arme Mann, den sie da gerade erst gefunden haben. Fast totgeprügelt haben sie den.“
Was?! Ich erstarrte innerlich, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Fast totgeprügelt? Wen? Wann? Wo? Schockiert sah ich zu Lukas‘ Kollegen rüber, dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte. Der blieb im Gegensatz zu mir gelassen, schien aber selbst bisher nichts davon gehört zu haben und wandte sich an Frau Schulze: „Was meinen Sie damit?“
Die Alte blickte etwas ratlos zwischen uns hin und her. „Ja, hört ihr jungen Leute denn keine Nachrichten mehr? Das kommt doch seit gestern ständig durchs Radio. Sie haben gesagt, dass ein junger Mann überfallen und zusammengeschlagen wurde. Irgendwo in der Stadt … Aber wo war das auch noch … Ach, ich habe es leider vergessen.“
Eine eisige Faust griff nach meinem Brustkorb und drückte immer weiter zu.
Lukas!, war mein einziger Gedanke. Was, wenn es sich dabei um ihn handelte? Wenn die Pöbeltruppe ihm doch aufgelauert hatte, um sich an ihm zu rächen?
Am liebsten hätte ich meine Nachbarin geschüttelt, damit sie mir sagte, wo dieser Überfall passiert war. Stattdessen kam dem kläglichen Rest meiner funktionsfähigen Hirnzellen eine andere Idee. Hektisch wühlte ich in meiner Tasche nach dem Handy und rief mit zitternden Fingern die Google-Suche auf. Währenddessen bekam ich gar nicht mehr mit, wie Lukas‘ Kollege sich weiter mit Frau Schulze unterhielt und sie schließlich ihrer Wege zog. Erst als er mich vorsichtig am Arm berührte, wurde mir bewusst, dass er mit mir redete.
Wie erwachend blickte ich zu ihm auf und musste dabei einen ziemlich panischen Eindruck gemacht haben, denn er legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter. „Hey“, sagte er ruhig. „Jetzt mach dich nicht gleich verrückt. Das muss überhaupt nichts mit Lukas zu tun haben.“
„Und wenn doch?“, stieß ich heiser hervor. Er wusste ja nichts von der Szene am Bahnsteig, sonst wäre er sicher auch nicht mehr so gelassen.
Der junge Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Handy. „Hast du was gefunden?“
Ich schaute zurück auf das Display und schüttelte frustriert den Kopf. „Nein. Bis jetzt bloß eine Überschrift, und wenn man weiterlesen will, muss man bezahlen.“
„Beim Anzeiger?“, hakte er nach.
„Ja.“
„Ich hab da ein Abo“, sagte er und zog sein eigenes Handy aus der Tasche.
Im selben Moment ging die Haustür ein weiteres Mal auf, und die fünfjährigen Zwillinge aus dem ersten Stock stürmten laut kreischend zwischen uns hindurch, gefolgt von ihrer gestressten Mutter. Auch das noch! Die Jungs waren bekannt dafür, dass sie einen in Grund und Boden quatschten, dabei lagen meine Nerven sowieso schon blank. Aber zum Glück schien es meine Nachbarin eilig zu haben, denn sie scheuchte ihre Söhne energisch weiter Richtung Auto.
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