Die Nacht wurde wie erwartet furchtbar. Statt zu schlafen, lauschte ich auf jedes kleine Geräusch im Treppenhaus, doch nie blieben die Schritte an der Tür nebenan stehen, sondern polterten jedes Mal weiter rauf ins Dachgeschoss.
Als ich am Dienstagmorgen zur Arbeit kam, war ich wie gerädert. Und ausgerechnet heute hatten wir nach Feierabend eine weitere Schulung für die neue Buchungssoftware. Das perfekte Timing, denn meine Konzentration ging mit jeder Stunde mehr Richtung null. Aber auf wundersame Weise schaffte ich es, auch diesen Tag zu überstehen.
Zwischendurch schaute ich ständig auf mein Handy und hoffte, dass Olli sich mit Neuigkeiten gemeldet hatte. Doch alles, was er am frühen Nachmittag schrieb, war, dass er bisher nichts gehört hatte.
Abends um halb zehn hatte ich endlich Feierabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte ich vergeblich, meine hoffnungsvolle Erwartung, dass Lukas wiederaufgetaucht sein könnte, zu bremsen und mich gegen die Enttäuschung zu wappnen, wenn es eben nicht so sein sollte. Alles in mir kribbelte vor Nervosität, und sobald unser Wohnblock in Sichtweite kam, suchte ich mit den Augen die Fassade nach den Fenstern von Lukas‘ Wohnung ab. Die zwei außen rechts waren meine und daneben …
Ich schnappte überrascht nach Luft. Da war Licht hinter einem der Fenster! Vorsichtshalber zählte ich noch einmal nach, aber es war definitiv das vierte Fenster von rechts im zweiten Stock, also die Wohnung von Lukas!
Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Am liebsten wäre ich sofort losgerannt, um bei ihm zu klingeln und mich erleichtert in seine Arme zu stürzen. Stattdessen blieb ich wie erstarrt stehen und blickte mit wild klopfendem Herzen weiter nach oben. So ganz traute ich der Sache nicht über den Weg. War das wirklich Lukas da in der Wohnung? Sollte tatsächlich auf einmal alles wieder gut sein? Oder war es vielleicht doch bloß ein Angehöriger, der gekommen war, um ihm ein paar Sachen fürs Krankenhaus zu holen?
Während ich noch zögerte, tauchte eine Silhouette am Fenster auf, und ich keuchte vor Erleichterung auf. Größe, Statur, Haare – alles, was ich von hier unten erkennen konnte, passte. Das war Lukas! Er war wieder da! Ihm war nichts passiert!
In Rekordzeit legte ich das letzte Stück bis zur Haustür zurück und schaffte es nur mit Mühe, sie aufzuschließen, weil meine Finger vor Aufregung so stark zitterten. Ich hätte heulen können vor Freude, zwang mich aber, es nicht zu tun. Was sollte Lukas denn denken, wenn ich plötzlich tränenüberströmt vor seiner Tür stand? Es würde schon schwer genug sein, ihm nicht sofort um den Hals zu fallen.
Ohmeingottohmeingottohmeingott! Er war wirklich wieder da. Die ganze Angst war umsonst gewesen. Völlig überwältigt taumelte ich die Treppe rauf, während auf jeder einzelnen Stufe ein Lukas-ist-da in meinem Kopf herumtanzte.
Als ich schließlich vor seiner Wohnungstür stand, flatterten unzählige Schmetterlinge in aufgeregter Vorfreude in meinem Bauch herum. Ich freute mich so wahnsinnig darauf, ihn zu sehen. Nur dass das in diesem Fall wenig mit Verliebtheit zu tun hatte, sondern mit der unfassbaren Erleichterung, dass ihm nichts passiert war. Dass die Szene an der Haltestelle kein Nachspiel gehabt hatte und ich deshalb dieses furchtbare Was-wäre-wenn-Karussell in meinem Kopf endlich abstellen konnte.
Ich atmete tief durch und drückte mit zitternden Fingern auf die Klingel.
Hinter der Tür hörte ich Schritte näher kommen, dann ein „Hallo?“ und ein leises Fluchen: „Wie funktioniert denn dieses Mistding?“
Im selben Moment rutschte mir das Herz in die Hose. Das war nicht Lukas. Es war nicht seine Stimme. Außerdem hätte er im Gegensatz zu dem Mann in seiner Wohnung gewusst, wie man die Gegensprechanlage im Flur bediente. Aber wer war es dann? Und wo war Lukas?
Für einen Augenblick stand ich wie gelähmt vor der Tür und fragte mich, ob es das zu bedeuten hatte, was ich glaubte. Dann hob ich wie in Zeitlupe die Hand und klopfte sacht an die Wohnungstür, um dem Fremden zu verstehen zu geben, dass ich hier oben direkt davor stand. Die Tür öffnete sich, und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der einerseits unglaubliche Ähnlichkeit mit Lukas hatte und andererseits überhaupt nicht. Er war genauso groß, genauso blond, genauso gut trainiert, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten bereits auf. Seine Augen waren zwar auch blau, aber wesentlich weniger intensiv, eher schon grau und glanzlos, statt so strahlend und funkelnd wie die von Lukas. Überhaupt wirkte er furchtbar blass und matt und war das genaue Gegenteil von diesem lebenslustigen Strahlemann, der normalerweise hier wohnte. Es musste sein älterer Bruder sein, von dem Lukas mir bei unserem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, wurde mir schlagartig klar, dass sich jeden Moment alle meine Befürchtungen bestätigen würden.
Bis Montagabend um elf hatte ich immer noch nichts von Lukas gehört und startete für diesen Tag einen letzten Versuch, ihn anzurufen. Für den Fall, dass er doch Spätschicht gearbeitet hatte, müsste er jetzt definitiv Feierabend haben. Aber es ging wieder nur die Bandansage ran. Verdammt! Hatte der Kerl sein Handy ausgeschaltet, oder was?
Ärgerlich legte ich mein Smartphone zur Seite und beschloss, ins Bett zu gehen. So langsam konnte Lukas mich gerne haben.
Als ich eine halbe Stunde später gerade eingeschlafen war, läutete es an der Haustür. Verwirrt schlug ich die Augen auf, warf einen Blick auf den Radiowecker und überlegte, wer zum Teufel um diese Zeit bei mir klingelte. Hauptsache, das waren nicht diese Jugendlichen, die bei uns in der Straße ständig Blödsinn machten.
Im Nachhinein fragte ich mich, wieso ich nicht gleich auf das Offensichtliche gekommen war. Wenn es spätabends an der Tür klingelte, bedeutete das doch nie etwas Gutes. Vor allem dann nicht, wenn man bereits den ganzen Tag vergeblich versucht hatte, seinen Bruder zu erreichen. Aber diese Verbindung hatte ich nicht gesehen und wurde von den beiden Polizeibeamten vor meiner Tür eiskalt erwischt.
Sie wollten wissen, ob ich der Bruder von Lukas Engelhardt war. Sie fragten, ob sie einen Moment hereinkommen könnten. Sie erzählten etwas von einem Überfall und dass ich mit in die Klinik kommen sollte, um zu bestätigen, dass es sich bei dem Opfer um meinen Bruder handelte.
In meinem Kopf herrschte schlagartig Chaos. Krankenhaus? Überfall? Lukas? Nein! Das musste ein Irrtum sein!
Die nächsten anderthalb Stunden versanken in einem Nebel aus Hoffen und Bangen. Knapp hundert Kilometer waren definitiv zu weit für die Angst, die sich mit dem Auftauchen der Polizisten in meinem Bauch zusammengeballt hatte.
Das kann nicht Lukas sein!, redete ich mir gut zu. Wer sollte ihm so etwas antun wollen? Das ist doch absurd. Aber ich schlage mir gerne die Nacht um die Ohren, um euch zu sagen, dass ihr euch vertan habt.
Doch tief in meinem Inneren ahnte ich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Die Polizei würde nicht über die weite Strecke solchen Aufwand betreiben, wenn sie nicht einen guten Grund dafür hätte, oder?
Oh, shit! Konnte mich bitte mal jemand wecken und aus diesem Albtraum erlösen?
Aufgewühlt fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und griff nach meinem Handy, in dem naiven Glauben, dass dort unverhofft eine Nachricht von Lukas eingegangen sein könnte und dem Spuk ein Ende machte. Aber abgesehen von der Uhrzeit war das Display leer.
Nach einem unübersichtlichen Gewirr von Gängen und Fahrstühlen stand ich schließlich mit schweißnassen Händen auf der Intensivstation. Wie ferngesteuert folgte ich einem Arzt in einen Raum, der vorne, rechts und links aus Glaswänden bestand, trat an das Bett heran und hätte meinen eigenen Bruder beinah nicht erkannt. Überall an ihm waren Kabel und Schläuche und führten in zahlreiche blinkende und piepende Maschinen, die fast die komplette vierte Wand einnahmen. Lukas‘ Gesicht war tiefrot und blau und geschwollen und eins der wenigen Körperteile, die nicht in einem Gips oder Verband steckten.
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