Texte: 2018 © Copyright Sandra Mularczyk
Umschlag: © Copyright Sandra Mularczyk, Pixabay
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Veröffentlichung: epubli gmbH Berlin
Das Mädchen ohne Geschichte
Rebekka
Ich sitze hier und starre Löcher in die Wand. Blöd nur, dass in der Wand kein einziges Loch entsteht. Kein Einziges! Wie langweilig ist das denn? Was ist das für ein Leben, wenn nicht einmal Löcher in den Wänden entstehen, wenn man sie anstarrt? "Willst du die Wand hypnotisieren oder was treibst du da?", fragt Luca. Seine Stimme ist wie immer spöttisch. Ich hasse ihn. Der Junge wird mich nie verstehen. Und dass er gefälligst zu klopfen hat, bevor er mein Zimmer betritt, wird er wohl auch nie begreifen. "Zisch ab!", fluche ich, ohne ihn nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Meine Augen haften konsequent an der Wand. Nicht auszudenken, wenn ich meinen Blick abwende und dann doch ein Loch in der Wand entstehen sollte.... Um Gottes Willen, eine solche Sensation darf ich nicht verpassen. Eines Tages muss es doch so weit sein. Eines Tages muss es doch mal einen dieser Momente in meinem Leben geben, die man als Highlight bezeichnen kann. Ich seufze. Mir ist echt nicht mehr zu helfen. Wie lange sitze ich schon hier und warte? Wie lange warte ich schon auf ein Wunder? Auf eine glückliche Wende? Auf den Höhepunkt meines Lebens? 10 Jahre, 20 Jahre? Ich weiß es nicht. Letztlich ist es egal. Letztlich ist alles egal. Ja, letztlich bin sogar ich egal. Nur dieses Loch in der Wand, das noch nicht da ist... Das ist nicht egal. Wie bescheuert das auch klingt: Es ist meine letzte Hoffnung. Da ist eine Gewissheit in mir, dass... nun ja... dieses Loch in der Wand so etwas wie ein Zeichen sein könnte... Ja, dieses Loch in der Wand wäre das bedeutungsvollste Ereignis in meinem Leben. Es würde nämlich bedeuten, dass es mich gibt. Und es würde bedeuten, dass ich wirke. Wenn das bloße Schauen meiner Augen nämlich Löcher in die Wand zaubern könnte, dann wow... Wer sagt nicht, dass meine Augen und generell mein Mensch sein dann nicht noch viel mehr bewirken könnte?
"Gibt es sonst noch etwas Neues?", fragt Schwester Gabi mich bei der Übergabe. "Ja, Rebekka!", setze ich an und werde sofort unterbrochen. "Ach, die!", knurrt Gabi verächtlich und schüttelt mit dem Kopf. "Was soll es denn da Neues geben oder hat sie sich ausnahmsweise Mal ein frisches T-Shirt angezogen? Oder sogar die Haare gekämmt?" "Nein, nichts dergleichen", sage ich bekümmert und schaue auf den Boden. Ich möchte mir nicht anmerken lassen, dass das Mädchen aus Zimmer 14 mich schon lange beschäftigt. Und das nicht nur, weil es mir irgendwie weh tut, dass es von meinen Arbeitskollegen wie Luft behandelt wird. Als hätte Gabi meine Gedanken gelesen, sagt sie: "Dieses unhöfliche Ding ist nicht der Rede wert. Sie behandelt uns wie Luft, also behandeln wir sie auch wie Luft. Schluss. Aus. Vorbei!"Mit möglichst sachlicher Stimme, versuche ich mich für die Rechte des jungen, schweigsamen Mädchens einzusetzen: "Nun, Gabi, ich hatte Frühdienst und zur Übergabe gehört es für mich nun mal, dass ich alle Bewohner und ihr derzeitiges Befinden thematisiere. Und dazu gehört nun einmal auch Bekka... Ähm Rebekka." Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Bekka... Wenn ich in meinen Träumen an sie denke, nenne ich sie auch immer Bekka. Das hat für mich etwas Weiches, etwas Warmes. Und seltsamerweise erscheint Rebekka mir genauso: Weich und warm. Ihre Stille, ihr Schweigen, ihre scheinbare Unauffälligkeit hat für mich überhaupt nichts Kühles und Distanziertes und schon gar nichts Unverschämtes. Wäre Rebekka noch ein kleines Kind, würde ich fast schon sagen: "Was für ein liebes Kind!" Doch Rebekka ist kein Kind mehr. Ist sie eine Erwachsene? Ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht. Wir wissen nichts über sie. Aber das gibt uns noch lange nicht das Recht so zu tun, als gäbe es sie nicht. Es gibt sie nämlich und manchmal bilde mir sogar ein, dass ihre Stille lauter und lebendiger ist als das Gerede der anderen Bewohner.
Sobald der Name Rebekka fällt, stellen sich mir alle Nackenhärchen auf. Das Mädel hat mir nie etwas getan, doch manchmal habe ich den Eindruck, ich bin allergisch gegen sie. Eigentlich könnte ich mich glücklich schätzen, denn sie ist eine relativ pflegeleichte Bewohnerin. Sie lässt alles mit sich machen, wehrt sich gegen nichts und das Wichtigste: Sie diskutiert nicht. Über nichts und niemanden. Eigentlich ist sie einfach nur da. Ja, sie ist einfach nur da und man bemerkt sie kaum. Und das seit mittlerweile mehr als 3 Jahren. Fakt ist aber auch, dass wir in diesen 3 Jahren nichts über sie herausgefunden haben. Wir haben NICHTS. Keine Angaben über ihre Herkunft, keine Geschichte, keine Anhaltspunkte darüber, wer sie ist und was sie braucht. Wir wissen nicht einmal ihr Alter, aber ich schätze sie auf 17. Oder 20. Ich weiß nicht. Eigentlich ist es mir egal. Eigentlich habe ich keine Lust an sie zu denken. Was erlaubt der Spinner sich eigentlich? Bekka... Tzzzz! Typischer Berufsanfänger. Er meint noch, er könnte die Welt retten oder in dem Fall die hoffnungslose Rebekka. Da kann er aber lange träumen, denn dieses Mädchen ist definitiv ein hoffnungsloser Fall. Dessen sind wir uns alle einig.
Sie hat mit mir gesprochen. Haltet mich ruhig für bekloppt, aber ich halte es für einen grandiosen Fortschritt. Eigentlich spricht Rebekka mit nichts und niemandem. Eigentlich tut sie den ganzen lieben Tag so, als sei sie gar nicht da. Doch ich weiß, dass sie da ist und ich werde es auch schaffen, sie aus ihrem dunklen Loch rauszuholen. Oder aus ihrer einsamen Höhle oder wo auch immer sie sich befindet. Oh ja, ich möchte so gerne wissen, wo sie ist. Wer sie ist. Sie ist viel interessanter als die anderen Mädels, die den halben Tag nur vor dem Spiegel stehen und sich schminken. Oder die Tussis, die ständig nur rumheulen und Mitleid erregen wollen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass Rebekka uns ganz viel zu sagen hat. Sie sagt in der Regel nichts, aber wenn sie reden würde... Dann hätte sie uns mehr zu sagen als all die plappernden Hühner, die langweiligen Bullshit vor sich hin sabbeln.
"Sie hat gelächelt!", informiere ich Gabi, auch wenn sie mir deutlich zu verstehen gegeben hat, dass sie von unserer schweigsamen Bewohnerin nichts wissen möchte. Es ist mein Job, meine Kollegen darüber zu informieren, was geschehen ist, also tue ich es auch. "Ich brachte ihr ihren Kakao und dieses Mal starrte sie nicht regungslos vor sich hin. Nein, sie hat tatsächlich gelächelt. Ein klitzekleines Lächeln nur, aber es war da. Ich glaube, Rebekka macht Fortschritte!""Fräulein Rebekka ist also kein gefühlskaltes Monster? Wow! Wenn lächeln heutzutage schon zu den Fortschritten gehört, dann Prost Mahlzeit. Heißt das etwa, wir können sie bald entlassen und sie wird eigenständig leben und wohnen? Meinen Sie etwa, sie wird eines Tages doch noch ein nützliches soziales Wesen, das nicht nur faul auf dem Boden rumsitzt und sich bedienen lässt?" "Seit wann siezen Sie mich?", frage ich perplex und versuche die Wirbelstürme in meinem Inneren zu unterdrücken. "Seit ich vollständig an Ihrer Kompetenz zweifle, Herr Albrecht!", antwortet Gabi. "Und nun Tschüss, Sie haben Feierabend!" Es macht keinen Sinn. Es macht keinen Sinn, sich mit Menschen zu unterhalten, die nicht wirklich reden wollen, die weder sehen noch verstehen wollen. Ja, es macht keinen Sinn, denke ich und schlendere gedankenverloren in Richtung Ausgang. In meinem Kopf existiert nur noch ein einziger Gedanke: Bekka, was ist nur mit dir los?
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