1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Nachdem sie weg waren, schlug ich Lukas‘ Kollegen vor, zu mir nach oben zu gehen, bevor wir erneut gestört wurden. Ich kannte ihn zwar überhaupt nicht, doch ich hatte jetzt andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob er möglicherweise ein Frauenschänder oder Serienmörder sein könnte. Und wie zum Beweis dafür, dass er es nicht war, hörte ich ihn auf dem Weg die Treppe rauf hinter mir sagen: „Ich bin übrigens Olli.“
Wie von selbst verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. „Anna“, erwiderte ich, und auch wenn Nele mich dafür garantiert zur Schnecke machen würde, reichte mir das, um diesen Wildfremden mit in meine Wohnung zu nehmen.
Schweigend gingen wir durch ins Wohnzimmer, wo Olli sich in seinen Account bei unserer Tageszeitung einloggte und ich gleichzeitig nach anderen, uneingeschränkten Artikeln suchte, aber nicht fand. Bis Olli mir sein Smartphone reichte, auf dessen Display mir der Artikel über den Überfall ins Auge sprang. Ängstlich nahm ich es entgegen und las den Text, während mir die eisige Faust immer weiter die Luft abdrückte.
Von einem bisher nicht identifizierten jungen Mann war dort die Rede, der am frühen Sonntagmorgen mit lebensgefährlichen Verletzungen hinter ein paar Müllcontainern eines Wohnblocks in der Nähe des Berliner Platzes gefunden worden war. Es hieß, er sei möglicherweise das Opfer eines Raubüberfalls geworden, da er weder Handy noch Portemonnaie bei sich trug. Die Verletzungen stammten laut Aussage der behandelnden Ärzte von zahlreichen Schlägen und Tritten gegen den gesamten Körper. Es wurden Zeugen gesucht, die in der Nacht etwas Verdächtiges beobachtet hatten bzw. jemanden vermissten, auf den die Personenbeschreibung passte.
„Oh mein Gott“, flüsterte ich fassungslos und las ein weiteres Mal die Angaben zum Aussehen des Opfers: Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, groß, blond, sportlicher Körperbau, blaue Jeans, dunkelblaues T-Shirt mit grauem Aufdruck auf der Brust.
„Das alles passt genau auf Lukas. Und er war da, am Berliner Platz.“
„Ja, das schon“, gab Olli zu bedenken. „Aber beides trifft auf zig andere Leute auch zu. Du hast keine Ahnung, was da beim Public Viewing los war. Und blaue Jeans und dunkelblaues Shirt sind keine außergewöhnlichen Klamotten.“
Er wollte mich beruhigen, aber ich meinte in seiner Stimme ein leichtes Zögern zu hören. So viel Zufall konnte es außerdem gar nicht geben, dass Lukas ausgerechnet in dem Moment von der Bildfläche verschwand, in dem so ein schreckliches Verbrechen geschah. Schon für sich alleine klang das ziemlich unwahrscheinlich, geschweige denn, wenn man die Vorgeschichte kannte.
Erzähl es ihm!, wisperte eine leise Stimme in mir. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst und Entsetzen und dachte immer wieder nur: Bitte, lass es nicht Lukas sein! Bitte, bitte, lass es nicht Lukas sein!
„Anna?“
Ich hob den Kopf und bemerkte Ollis fragenden Blick. Er spürte anscheinend, dass etwas in mir vorging, was über die bloße Sorge um einen Nachbarn hinausging.
Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander und gab ihm schweigend sein Handy zurück. Dabei erstickte ich fast an all den ungesagten Worten, die mir in der Kehle steckten und rauswollten, aber nicht konnten. Nicht durften. Weil meine Befürchtungen dann Realität geworden wären. Vor meinem geistigen Auge sah ich die vier üblen Gestalten von der Haltestelle, wie sie Lukas beim Einsteigen in die Bahn ihre Drohungen hinterhergerufen hatten. Was, wenn es da einen Zusammenhang gab? Was, wenn es wirklich Lukas war, der dort schwer verletzt gefunden worden war? Verdammt, warum hatte ich mich nur von Nele beruhigen und ablenken lassen, wo ich von Anfang an dieses mulmige Gefühl gehabt hatte? Was, wenn wir doch zurückgefahren wären, um uns zu vergewissern, dass es ihm gut ging? Andererseits war ja zunächst alles bestens gewesen, solange er bei seinen Kollegen war …
„Okay“, riss Olli mich aus den Gedanken. „Was hältst du davon, wenn wir zur Polizei gehen und ihnen von Lukas erzählen, bevor wir uns hier weiter verrückt machen? Wenn er es wirklich ist, dann werden sie es schnell herausfinden können. Und wenn nicht, dann müssen wir uns darum wenigstens keinen Kopf mehr machen.“
Ich zuckte kaum merklich zusammen. Polizei? Alles in mir sträubte sich dagegen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab, denn ich hatte mir bisher nichts zuschulden kommen lassen. Aber das ging mir plötzlich alles zu schnell. Wenn ich dorthin ginge, müsste ich auch von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen. Und dann würden sie fragen, warum ich nicht früher etwas gesagt hatte. Und … keine Ahnung, was noch alles. Ich war mit der ganzen Situation vollkommen überfordert und hätte mir am liebsten die Decke über die Ohren gezogen, bis dieser Albtraum vorbei war und Lukas wieder quicklebendig mit seinem Hai an die Tür polterte. Mir war klar, dass das keine sehr erwachsene Reaktion war. Aber ähnlich wie an der Haltestelle war ich in völliger Hilflosigkeit erstarrt.
Zögernd schaute ich zu Olli und bemerkte, dass er mich forschend beobachtete. Unter seinem Blick schrumpfte ich immer mehr zusammen und fühlte mich furchtbar schlecht.
„Das nimmt dich alles ganz schön mit, was?“, sagte er mitfühlend. „Also, wenn du willst, kann ich auch alleine gehen. Aber darf ich deinen Namen angeben, wenn die Beamten danach fragen?“
Ich schluckte trocken und nickte langsam. „Glaubst du, dass sie das wissen wollen? Ich kann doch auch nicht mehr dazu sagen als du.“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nur für den Fall. Und vielleicht sollten wir auch unsere Handynummern austauschen, damit wir uns auf dem Laufenden halten können. Nicht, dass Lukas plötzlich hier auftaucht, während ich mich da mit der Polizei rumschlage.“
Meine Lippen verzogen sich zu einem winzig kleinen Lächeln. „Schön wär’s.“
Olli lächelte ebenfalls, tippte die Kontaktliste auf seinem Smartphone an und ließ sich meine Nummer diktieren. Nachdem wir unsere Daten gegenseitig gespeichert hatten, stand er auf und sagte: „Tja, dann will ich mal.“
Ich brachte ihn zur Tür, wo wir beide kurz innehielten und zu Lukas‘ Wohnung rüberschauten.
„Ich geb dir nachher Bescheid, was sie gesagt haben“, versprach Olli, bevor er ging.
„Danke“, erwiderte ich leise.
Er war schon die ersten drei Stufen runter, als mir etwas einfiel. „Olli?“
„Ja?“ Er blieb stehen und schaute über die Schulter zu mir zurück.
„Kannst du die Polizei bitte fragen, ob sie bei dem Mann von dem Überfall einen Schlüsselanhänger mit einem geschnitzten Hai dran gefunden haben?“
Er zog fragend die Stirn in Falten, nickte wortlos und ging.
Zurück in meiner Wohnung, ließ ich mich kraftlos aufs Sofa fallen, zog die Knie an die Brust und vergrub aufgewühlt mein Gesicht dazwischen. Das Herz pochte hart gegen meinen Brustkorb und pumpte rauschend das Blut durch meinen Körper. Lukas’ rätselhaftes Verschwinden und die Nachricht über den Überfall in der Nähe vom Berliner Platz hatten mich vollkommen schockiert, und ich wusste auch genau, warum. Was mir allerdings völlig schleierhaft war, war die Frage, wie ich nach dem Vorfall an der Haltestelle zwei Tage lang so tun konnte, als wäre nichts gewesen. War ich wirklich so oberflächlich, dass ich nach dem ersten Panikmoment die Szene einfach abhaken konnte? Oder war es ein fieser Trick meiner Psyche, das Ganze so gut zu verdrängen und zu hoffen, dass nie wieder jemand darauf zurückkommen würde? Tja, das hatte definitiv nicht funktioniert, und die schlagartige Erinnerung daran hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dort gesessen hatte, als mein Handy plötzlich klingelte und ich beinahe einen Herzinfarkt bekam. War das etwa schon die Polizei? Und falls ja, was sollte ich denen sagen?
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