Mist! Nele hatte mich gestern so mit ihrem blöden Old Chap überrumpelt, dass ich es völlig verschwitzt hatte. Also hieß es Beine in die Hand nehmen, denn Mark war bereits unterwegs und würde spätestens in einer halben Stunde bei mir sein.
Zwischen Dusche, Anziehen und einer schnellen Tasse Kaffee rief auch noch Nele an, die mir unerträglich glücklich jedes einzelne Detail über ihren Timm erzählen wollte. Ich vertröstete sie auf später und wappnete mich innerlich für den anstrengenden Tag mit einem extrem munteren Dreijährigen. Zum Glück hatte ich gestern Abend nicht allzu viel getrunken, sonst hätte ich jetzt ein echtes Problem.
Ich hatte gerade den letzten Schluck Kaffee runtergeschluckt und räumte meine Tasse in die Spüle, als es bereits an der Tür klingelte.
„Bin unterwegs!“, rief ich Mark durch die Gegensprechanlage zu, schnappte mir meine Sachen und machte mich auf den Weg.
Im Hausflur wanderte mein Blick wie von selbst rüber zur Nachbarwohnung, und ich fragte mich, ob Lukas wohl auch schon wach war. Flüchtig tauchte eine Erinnerung an die Szene vom Bahnsteig in meinem Kopf auf. Doch im Großen und Ganzen hatte ich den Vorfall bereits verdrängt und als ein kleines, unbedeutendes Zwischenspiel abgehakt. Stattdessen rief ich mir lieber Lukas‘ strahlendes Lächeln vor Augen, und wie auf Knopfdruck waren auch die Schmetterlinge wach, um mit mir in den Tag zu flattern.
Nach einem geselligen Abend in der Hotelbar, einem unerwartet lehrreichen Rest des Seminars und einer überraschend staufreien Heimreise kam ich am Montagmorgen gut gelaunt zur Arbeit und staunte ein wenig über die verblüffte Reaktion meiner Kollegen. Hatte ich tatsächlich so lange nicht mehr gelacht und Späße gemacht? Wie es aussah, hatte Lukas recht, und ich hatte mich nach der Trennung von Steffi stärker verändert, als ich dachte. Doch den Gedanken an sie verdrängte ich schnell, ehe die schlechte Laune zurückkehrte. Stattdessen machte ich mich mit Schwung an die Arbeit.
In der Mittagspause setzte ich mich draußen vor der Praxis in die Sonne und checkte auf meinem Smartphone die Nachrichten, die in der Zwischenzeit eingegangen waren. Hauptsächlich waren es Anfragen von Freunden, ob ich am kommenden Wochenende nicht dieses oder jenes mit ihnen unternehmen wollte, wobei ich prompt an Lukas‘ Worte denken musste. Von wegen komischer Einsiedler!
Mit einem zufriedenen Lächeln antwortete ich meinen Leuten, dass ich diese Woche leider schon verplant war, aber gerne ein anderes Mal darauf zurückkommen würde.
Als ich schließlich einen Blick in mein E-Mail-Postfach warf, erstarrte ich. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Hatte ich diesem verdammten Makler nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, dass wir wirklich nur am Samstagmorgen Zeit hatten, weil Lukas zu weit weg wohnte, um innerhalb der Woche herzukommen? Und jetzt war dem werten Herrn angeblich etwas dazwischengekommen, und er fragte, ob wir uns nicht doch schon am Freitagabend treffen konnten. Er wäre auch zu einem späten Termin außerhalb der normalen Zeiten bereit. Na, wie gnädig!
Ich stieß geräuschvoll die Luft aus und überlegte, ob Lukas in dieser Woche Früh- oder Spätschicht hatte. Wenn er Frühschicht hätte, könnte es funktionieren. Wenn nicht, dann würde sich der Verkauf des Hauses weiter verzögern.
Ziemlich angepisst wechselte ich zu WhatsApp und schrieb Lukas: Ruf mich bitte mal an, sobald du kannst! Dringend!
Doch ich wartete vergeblich. Bis nachmittags um vier hatte er meine Nachricht nicht einmal gelesen, obwohl er entweder um diese Zeit längst zu Hause war oder sie vor der Arbeit noch gesehen haben musste.
Weitere zwei Stunden später, als ich selbst Feierabend machte, hatte ich die Faxen dicke und rief ihn an, auch auf die Gefahr hin, ihn mitten in der Schicht zu erwischen.
„Der angerufene Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar“, teilte mir eine Frauenstimme vom Band mit. „Wenn Sie eine Rückrufbenachrichtigung per SMS senden wollen, drücken Sie …“
Shit! Frustriert unterbrach ich die Ansage und schickte Lukas selbst eine Nachricht. Aber den Rest des Abends wartete ich weiterhin vergeblich auf eine Antwort.
Im Stillen verfluchte ich meinen unzuverlässigen Bruder, der sich wahrscheinlich gerade irgendwo vergnügte und bloß keinen Bock auf mich und diesen langweiligen Organisationskram hatte. Ärgerlich scrollte ich unsere letzten Chats bei WhatsApp durch, bis ich einen Hinweis darauf gefunden hatte, dass er in seiner zweiten Woche in der neuen Firma Spätschicht gearbeitet hatte. Demnach hatte er diese Woche Frühschicht, und wenn er sich bis morgen früh nicht gemeldet hatte, würde ich dem Makler für Freitagabend zusagen. Dann musste Lukas sehen, dass er herkam, egal, was er sonst geplant hatte.
Punkt! Aus! Ende der Durchsage!
Als ich am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, stand vor unserer Haustür ein junger Mann, der an der Fassade hochblickte und etwas ratlos wirkte. Ich hatte ihn nie zuvor hier gesehen, aber er machte einen recht harmlosen Eindruck, deshalb trat ich ohne zu zögern neben ihn, zog meinen Schlüssel aus der Tasche und sagte: „Hallo.“
„Hallo“, erwiderte er automatisch und drehte sich zu mir um.
Wir musterten uns schweigend, und ich fragte mich, ob er eventuell Hilfe brauchte. Vermutlich wollte er zu einem der Studenten aus der WG im Dachgeschoss, bei der so oft die Bewohner wechselten, dass sich längst keiner mehr die Mühe machte, die Namensschilder an der Klingel auszutauschen. Kein Wunder, dass man da als Besucher überfordert war.
„Suchst du jemanden?“, erkundigte ich mich freundlich.
Der junge Mann runzelte nachdenklich die Stirn und antwortete etwas zerstreut: „Ja … das heißt, nein. Ich wollte eigentlich zu Lukas Engelhardt, aber er scheint nicht da zu sein.“
„Ach so“, gab ich möglichst neutral zurück, während mein Herz alleine bei der Erwähnung seines Namens einen kleinen Hüpfer außer der Reihe machte. „Wart ihr denn verabredet?“
„Nein.“
„Tja, dann hast du wohl einfach Pech gehabt.“ Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloss und erwartete, dass er sich daraufhin verabschieden und gehen würde. Doch er rührte sich nicht von der Stelle, und ich spürte, dass er noch etwas loswerden wollte.
„Kennst du Lukas?“, fragte er, ehe ich die Tür aufschließen und im Haus verschwinden konnte. „Also, wenigstens vom Sehen, meine ich? Er ist erst vor ein paar Wochen hierhergezogen.“
„Ja“, sagte ich und drehte mich wieder zu ihm um. „Er wohnt direkt neben mir. Wieso?“
Er zögerte kurz. „Hast du ihn zufällig seit dem Wochenende mal gesehen?“
Ich sah ihn überrascht an: „Warum willst du das wissen?“
Ich hatte schließlich keine Ahnung, wer er war, und da konnte ja jeder daherkommen, um die Nachbarn auszuhorchen. Andererseits … Jetzt, wo er danach fragte, fiel mir auf, dass ich tatsächlich nicht wusste, ob Lukas seit unserer letzten Begegnung am Samstagabend noch einmal hier gewesen war. Und das, obwohl ich ihn dank seines polternden Hais eigentlich immer hörte, wenn er nach Hause kam. Allerdings war ich selbst ebenfalls unterwegs gewesen, überlegte ich im Stillen. Gestern bei Flo, der mir wirklich alles abverlangt und bloß eine erschöpfte Hülle von mir übrig gelassen hatte, und heute bei der Arbeit. Aber mich beschlich plötzlich ein dumpfes Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Ich bin ein Kollege von Lukas“, erklärte der Fremde, der meine Unsicherheit zu spüren schien. „Wir waren Samstagabend mit ein paar anderen aus unserem Team zum Public Viewing verabredet und …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn auf einmal seltsam angespannt. „Und da wollte er auch hin. Wir haben uns direkt vorher zufällig getroffen und darüber geredet.“
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