Es fühlte sich an wie ein Tanz auf rohen Eiern, den ich hier mit diesem Felix veranstaltete. Er schien mich so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen, ohne etwas erklären zu müssen. Ich dagegen würde nicht eher gehen, bevor ich nicht erfahren hatte, was mit Lukas war, auch wenn ich gleichzeitig furchtbare Angst davor hatte.
„Ihm ist etwas passiert, oder?“, fragte ich leise.
Felix schluckte schwer und sah so mitgenommen aus, dass es eigentlich Antwort genug war. „Luka ist im Krankenhaus“, erklärte er zögernd, und alleine dieses liebevoll weggelassene S am Namen seines Bruders machte deutlich, wie viel er ihm bedeutete. „Er … Es war wahrscheinlich ein Überfall, sagt die Polizei.“
Nein! Nein, nein, nein! Bitte nicht!, schrie eine Stimme in mir, obwohl ich es die ganze Zeit geahnt, befürchtet, gewusst hatte.
„Also doch“, flüsterte ich entsetzt, mehr zu mir selbst als zu ihm. Aber natürlich hatte er es gehört und schaute mich überrascht an.
„Was heißt das, also doch?“
Ich wich seinem intensiven, fragenden Blick aus und wurde plötzlich von meinen Schuldgefühlen erdrückt. Wie sollte ich Felix nur erklären, was ich alles wusste und vor allem, warum ich nichts getan hatte? Dass ich es vielleicht hätte verhindern können, aber stattdessen mein Bauchgefühl in die Ecke getreten hatte und mit meiner Freundin ein paar Cocktails trinken gegangen war? Das konnte ich nicht. Nicht, solange ich nicht wusste, wie es Lukas ging und ob das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hatte. Immerhin bestand weiterhin die Möglichkeit, dass es gar keine Verbindung zwischen dem Überfall und der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab. Mit einem voreiligen Geständnis würde ich Felix nur unnötig verrückt machen und er mich völlig umsonst hassen.
„Ich habe davon gehört“, antwortete ich ausweichend und wagte es nicht, ihm dabei in die Augen zu gucken. „Eine Nachbarin hatte es erwähnt, direkt nachdem ich unten vor der Tür Lukas‘ Kollegen getroffen hatte. Er war auf der Suche nach ihm und …“ Ich geriet ins Stocken, sammelte mich kurz und erklärte weiter: „Wir haben zusammen versucht, im Internet mehr über den Überfall in Erfahrung zu bringen, weil wir beide seit Samstagabend nichts mehr von Lukas gehört und gesehen haben. Und die Personenbeschreibung passte dann genau auf ihn, deshalb … Ich hatte so ein komisches Gefühl, also ist Olli zur Polizei gegangen, um denen das zu melden. Und jetzt sagst du, dass es wirklich Lukas ist.“
Meine Stimme versagte den Dienst, und mir liefen ein paar dicke Tränen über die Wangen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg, doch es kamen immer neue.
Felix stand währenddessen vollkommen reglos vor mir und schwieg, starrte an mir vorbei ins Leere und hatte anscheinend seinen eigenen Film vor Augen. Erst als ich mich bewegte und überlegte, ob ich besser gehen sollte, reagierte er und sagte überraschend: „Willst du vielleicht mit reinkommen?“
Unentschlossen schaute ich rüber zu meiner Wohnungstür, dann wieder zu ihm. Felix hielt meinen Blick fest, und ich meinte in seinem so etwas zu erkennen wie: Lass mich bitte nicht alleine!
Ich bekam eine Gänsehaut und nickte schwach.
Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat zögernd den Flur. Dabei fiel mir sofort der Schlüsselbund auf der Kommode ins Auge. Wie von selbst griff meine Hand nach dem hölzernen Hai und strich sanft mit dem Finger darüber.
Ich spürte Felix‘ fragenden Blick auf mir und legte den Hai schnell zurück. „Tut mir leid“, erklärte ich beschämt. „Es ist nur … das ist so ein Insidergag zwischen Lukas und mir, weil er es nie schafft, seine Wohnung aufzuschließen, ohne mit dem Ding gegen die Tür zu poltern.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war so unendlich traurig, dass es mir das Herz brach.
„Der Hai hat eine tiefere Bedeutung für ihn, oder?“, hakte ich vorsichtig nach.
Felix nickte stumm. Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände, deshalb ließ ich es damit gut sein. Vielleicht würde ich eines Tages erfahren, was es mit dem Schlüsselanhänger auf sich hatte. Und wenn nicht, dann nicht. Jetzt hatten wir jedenfalls andere Sorgen.
Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, das vom Grundriss genauso beschaffen war wie meins, nur spiegelverkehrt und deutlich karger und männlicher eingerichtet. Wäre ich jetzt mit Lukas hier gewesen, hätte ich ihn bestimmt nach Hobbys und Lieblingsfilmen, -büchern, -musik und Ähnlichem gefragt. Aber die Situation war eine völlig andere, und Felix wirkte hier genauso fehl am Platz wie ich. Er deutete einladend aufs Sofa, blieb selbst jedoch stehen und schien nicht zu wissen, wohin mit sich und seiner Ruhelosigkeit. Meiner Meinung nach gehörte er ins Bett, so übernächtigt und erschöpft, wie er aussah. Aber ich konnte mir vorstellen, dass er in seiner Situation sowieso nicht schlafen konnte.
„Erzählst du mir, was mit Lukas passiert ist?“, fragte ich leise, als Felix keinerlei Anstalten machte, von sich aus zu reden.
„Frag lieber, was ihm nicht passiert ist“, antwortete er matt. „Luka ist von oben bis unten kaputt. Brüche, Prellungen, Quetschungen.“ Er hielt kurz inne, und mir entfuhr ein entsetztes: „Oh mein Gott“.
Felix starrte geistesabwesend aus dem Fenster und fügte hinzu: „Der oder die Täter müssen ganze Arbeit geleistet haben. So viel Gewalt. Und das bloß für so ein paar Euro und ein Smartphone.“
Ich zuckte innerlich zusammen. Nicht nur wegen der Verletzungen, sondern weil ich nach wie vor davon überzeugt war, dass es eben kein gewöhnlicher Raubüberfall war.
„Ist denn schon sicher, dass nicht doch etwas anderes dahintersteckt?“, gab ich zögernd zu bedenken.
„Was sollte das denn sein?“, meinte er wenig überzeugt. „Luka ist so ein Everybody’s darling, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Und da soll ausgerechnet er sich mit jemandem schlagen? Eher quatscht er den Gegner mit seinem Charme unter den Tisch.“
Bei der Vorstellung musste ich beinahe lächeln, doch die Last meines schlechten Gewissens war stärker.
„Und wenn er an einen Gegner geraten ist, bei dem das nicht gewirkt hat?“
Felix drehte sich um und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick.
„Ich meine ja nur“, erklärte ich schnell, bevor er auf die Idee kam, dass ich irgendetwas wissen könnte. „Olli hat zum Beispiel erwähnt, dass Lukas was mit einer Frau am Wickel hatte. Was, wenn da plötzlich ein eifersüchtiger Freund aufgetaucht ist? Oder er sich in etwas anderes eingemischt hat, was jemandem nicht gefallen hat?“
Wie zum Beispiel die Belästigung einer jungen Frau durch vier ekelhafte Typen an der Bahnhaltestelle, dachte ich im Stillen, während eine leise Stimme in mir drängte, es auch auszusprechen.
Doch sofort wurde sie von Felix übertönt, der sich stöhnend neben mir aufs Sofa fallen ließ und haareraufend sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich hoffe nur, dass wir es überhaupt jemals erfahren werden und der oder die Täter dafür verknackt werden. Aber bis jetzt hat die Polizei keinen einzigen Anhaltspunkt.“
Er blickte wieder auf und starrte einen Moment geradewegs durch mich hindurch. „Das kann doch nicht sein, oder?“, überlegte er laut. „Da stehen ein paar große Wohnblocks drum herum, und keiner will etwas gehört oder gesehen haben? Wenn du mich fragst, haben die alle bloß weggeguckt, weil sie zu feige waren. Aber können sie dann nicht wenigstens jetzt eine Zeugenaussage machen?“
Er war zum Ende hin immer lauter geworden, und jedes Wort fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Denn ohne es zu wissen, hatte er damit auch mich gemeint. Betroffen presste ich die Lippen aufeinander, hin- und hergerissen, ob ich ihm von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen sollte. Aber ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte sein Handy.
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