Die Einzige, die ihr gerade einfiel und die dem, was man eine Freundin nannte, am nächsten kam, war Selina Marksdorf, ihre Klassenkameradin und die Bassistin der Band.
Sarika hat Glück. Selina schien zu Hause zu sein. Zumindest stand ihr Twingo auf dem Hof vor dem ehemaligen Kuhstall, in dem die Freundin wohnte und in dem sie gestern Abend noch gefeiert hatten. Die Spuren des nächtlichen Gelages waren noch immer allgegenwärtig. Rund um die Feuerschale, die sich direkt hinter dem Twingo auf dem Kopfsteinpflaster befand, lagen gut und gerne ein Dutzend leere Bier- und Weinflaschen. Auf der urigen Bank direkt neben dem Eingang zum Kuhstall stand noch immer die Wodkaflasche. Auf dem Boden davor leere Pappbecher und Zigarettenkippen. Die Türe war nur angelehnt. Dass Selina bereits wach war, stand außer Frage, da Sarika am Morgen, nach der Entdeckung des Videos, ja bereits mit der Freundin telefoniert hatte.
Sie klopfte gegen den Türstock und trat ein. Der ehemalige Stall war alt, die Wände dick, mit eher winzigen Fenstern. Es gab fast keinerlei Wände in dem riesigen Raum, alles war offen. Die Gewölbedecke ruhte auf mehreren alten Steinsäulen, wie man sie aus Kirchen oder Klöstern kannte. Nur eben etwas niedriger, wie in einem Keller. Der einzige abgetrennte Raum war das Bad im hinteren Bereich, von wo aus Sarika das Rauschen und Plätschern von Wasser vernahm. Irgendwer duschte da gerade. Selina war es nicht. Die stand nämlich mit Kopfhörern auf den Ohren an der Anrichte der Küchenzeile und goss sich Kaffee in eine Tasse.
„Selina?“, rief Sarika.
Die Angesprochene reagierte nicht. Gegen den Sound aus den Kopfhörern schien Sarikas Stimme keine Chance zu haben.
In dem Moment, als Sarika noch überlegte, wie sie sich bemerkbar machen konnte, drehte Selina sich um und zuckte sofort erschrocken zusammen.
„Fuck … Sari … Mensch, hast du mich erschreckt“, stieß Selina aus, riss sich mit der Linken den Kopfhörer von den Ohren, während sie versuchte, mit der Rechten den Kaffeebecher auszutarieren. Was nicht wirklich funktionierte, da doch einiges auf dem Boden landete.
„Sorry, die Türe war auf und du hast nichts gehört … ich wisch das eben schnell weg“, bemühte Sarika sich um Schadensbegrenzung.
„Nee, lass, mach ich gleich selbst“, antwortete Selina, ging zu dem großen Schlafsofa und ließ sich darauf sinken.
„Also, das ist jetzt kein Problem, wenn ich das wegwische … ist ja quasi meine Schuld“, versuchte sie es noch einmal, war aber dann auch nicht böse drum, als Selina ein weiteres Mal abwinkte.
„Nee, lass. Ich muss die Bude gleich eh komplett wischen und das Chaos beseitigen, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Meine Alten flippen aus, wenn sie den Hof so sehen, wobei … paar Tage hab’ ich ja noch“, erwiderte Selina und deutete dann auf die Kaffeemaschine.
„Wenn du magst, nimm dir auch einen.“
Sarika blickte zu der Tür, die ins Bad führte.
„Nicht, dass ich da jemandem etwas wegtrinke.“
Selina kicherte kurz, verzog dann aber das Gesicht und fasste sich an den Kopf, als habe sie Schmerzen.
„Nee, das ist nur Lena und nicht, was du denkst … Fuck, tut mir die Birne weh“, stöhnte Selina und massierte mit ihrer Linken ihre Schläfe, während die Rechte den Griff der Tasse fest umklammert hielt.
Sarika bediente sich derweil am Kaffee. Ja, sie hatte tatsächlich gedacht, dass da eventuell ein Kerl im Bad war, obwohl es laut Sarikas aktuellster Info derzeit keinen Typen in Selinas Leben gab. Doch solche Dinge konnten sich ja auch schnell einmal ändern.
„Hast du mit Fabrice gesprochen?“, wollte Selina nun wissen. Sarika hatte mit genau dieser Frage gerechnet. Immerhin hatten sie beide am Morgen am Telefon besprochen, dass Sarika sich darum kümmern sollte, ihrem ehemaligen Sänger den Kopf zu waschen. Den ganzen Weg von Tüschebachsmühle bis hierher hatte sie krampfhaft überlegt, was sie der Freundin sagen sollte. Dass Fabrice eventuell tot war, hatte Nina ihr im Vertrauen gesteckt. Andererseits wollte sie ihre Bandkollegin aber auch nicht anlügen.
„Der war nicht zu Hause und ans Telefon geht er auch nicht“, antwortete sie deshalb erst einmal ausweichend.
„Aha. Vermutlich hat er es ausgeschaltet, weil er ein schlechtes Gewissen hat, dieser Vollpfosten“, schimpfte sie.
„Moin, Sari … du bist es. Hab’ schon gedacht, wer das wohl sein könnte, als ich euch hab’ reden hören“, ließ die Stimme von Lena sie herumfahren. Die Schlagzeugerin kam gerade aus dem Bad. Ihre langen dunklen Locken glänzten nass. Sie war barfuß und steckte in einem viel zu großen weißen Bademantel.
„Moin, Lena“, grüßte Sarika zurück und deutete auf die Kanne der Kaffeemaschine. „Scheint noch genug drin zu sein.“
„Nee, lass mal. Man soll ja mit dem anfangen, mit dem man am Abend – oder vielmehr am Morgen – aufgehört hat“, fand sie, ging an den Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Bier und drückte den Verschlussbügel zur Seite.
„Och nee … nicht dein Ernst“, fand Selina. Auch Sarika wurde bereits bei dem Gedanken an ein Bier flau in der Magengegend.
„Und was machen wir jetzt mit Fabrice?“, wollte die Drummerin wissen und ließ sich in einen der beiden alten verschlissenen Sessel fallen, die vermutlich noch von Selinas Oma oder vom Sperrmüll stammten.
Sarika fläzte sich in den anderen und zuckte mit den Schultern.
„Am besten, wir ignorieren ihn einfach“, schlug sie vor, musste dann aber wieder an die Liste mit allen Partygästen denken, die sie für Nina hatte aufschreiben sollen. Verdammt, sie war total in der Zwickmühle. Warum war sie blöde Kuh auch hierhergefahren?
„Die Bullen suchen nach Fabrice“, warf sie nach einem Moment der Stille einen Teil ihres Wissens in den Raum.
„Warum? Wegen diesem bescheuerten Video?“, fragte Lena verwirrt.
„Nein … ja … auch. Fabrices Mum hat ihn als vermisst gemeldet. Sie hat das Video auch gesehen und glaubt, dass er sich etwas angetan haben könnte“, erklärte sie das, was Nina ihr vorhin ebenfalls gesteckt hatte und bei dem es sich vermutlich nicht um ein Dienstgeheimnis handelte. Um Fabrice zu suchen, musste die Polizei ja auch nach ihm fragen.
„Quatsch, die müssen doch bei Volljährigen immer ein oder zwei Tage warten, bis die ihn als vermisst suchen gehen. Nur weil ein Typ nachts nach einer Party nicht nach Hause kommt, mobilisieren die doch nicht gleich die gesamte Bullerei“, meinte Selina.
„Meine Stiefmutter und ihre Kollegin waren aber bereits bei Fabrice zu Hause, als ich vorhin dort ankam“, erwiderte Sarika.
„Ist für Vermisste nicht die normale Polizei zuständig? Ich dachte immer, deine Stiefmum ist bei der Kripo und fängt Mörder?“, bemerkte Lena.
„Keine Ahnung … was weiß ich, was die da genau wollten und wer in deren Verein für was zuständig ist“, wehrte sie ab. Verdammt, sie musste aufpassen, was sie hier erzählte. Wenn Nina rausbekam, dass Sarika etwas ausgeplaudert hatte, wäre der Teufel los. Nina war eine total liebe Person. Sie beide verstanden sich super. Doch Sarika wusste auch, wie ihre Stiefmutter darauf reagieren konnte, wenn man sie anlog oder ihr Vertrauen missbrauchte. Sarika sah abwechselnd zu Lena und Selina, die beide jede für sich zu grübeln schienen.
„Ich denk’, es ist das Beste, ich fahr heim und hau mich noch mal ’ne Stunde aufs Ohr“, log sie, da sie mit ziemlicher Sicherheit gar nicht schlafen könnte.
„Kannst du mich bei mir zu Hause absetzen?“, erkundigte sich Lena. Sarika nickte. Lena wohnte in Wehbach, das sollte kein großer Umweg sein.
„Na super. Ich dachte, ihr helft mir wenigstens noch, das Chaos draußen auf dem Hof zu beseitigen“, maulte Selina.
„Ähm … ja klar, kein Problem“, beeilte Sarika sich zu sagen, während Lena sich bereits erhob.
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