1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Er erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, drückte kurz und kräftig ihre Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, das Zimmer zu verlassen.
Tabea wollte erwidern, dass sie nicht auf einer Demonstration gewesen war – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen –, aber der Professor war bereits vorausgegangen und wackelte ungeduldig mit dem Büroschlüssel, den er in seiner Rechten hielt.
So freundlich, wie es ihr Stolz zuließ, murmelte sie ein Dankeschön, nickte ihm zu und lief den schmalen Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein psychologischer Test mit dem größten Misanthropen des Jahrhunderts: Das konnte ja nur schiefgehen.
Violetta legte ihre Finger fest um Johnnys Arm. Die langen Nägel kratzten auf seiner Haut. Trotzdem wartete er stoisch, bis sich endlich die Tür des Fahrstuhls schloss. Eine dichte Wolke aus Parfum und Nikotin erfüllte die enge Kabine und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Johnny spürte, wie der Kragen ihrer Lederjacke seinen Arm streifte. Er selbst schwitzte bei den hochsommerlichen Temperaturen, die in diesem Juni herrschten, obwohl er nur ein T-Shirt trug.
„Mutter“, versuchte er es noch einmal. „Ich hatte dich gebeten, mich nach Hause zu bringen.“
„Ich weiß.“ Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Aber ist es nicht besser, wenn du erst mal mit zu mir kommst?“ Sie ließ seinen Arm nicht los. „Ich kümmere mich doch jetzt um dich. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein armer Junge –“
„Sicher ist dir nicht entgangen, dass ich inzwischen ein erwachsener Mann bin.“
Darauf antwortete Violetta nur mit einem unterdrückten Schluchzen und Johnny war erleichtert, als sich die Fahrstuhltür surrend wieder öffnete.
Seine Mutter ging energisch voran und führte ihn in ihre Dreizimmerwohnung mit Blick über die Stadtteile Haslach und Weingarten, auch bekannt als Ha-Wei oder Hawaii. Ein knarzendes Geräusch zeigte Johnny, dass sie gerade einen ihrer Louis-XVI-Stühle vom Esstisch zog, und schon drückte sie ihn beherzt auf das weiche Polster. „Ich koche einen Kaffee. Du möchtest doch einen Kaffee?“, fragte sie mit zittriger Stimme, während sie den Glasschrank öffnete, in dem ihr Gin stand. Das Scharnier quietschte schon seit Ewigkeiten.
„Ich kann hören, dass du an der Vitrine bist. Schenk mir bitte auch einen ein.“ Erschöpft ließ Johnny den Kopf gegen die Lehne sacken. „Ach, was soll’s, gib mir einfach die Flasche rüber!“
Violetta seufzte. „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es in deiner momentanen Verfassung –“
„Mutter, ich bin nicht sterbenskrank.“
Jetzt stieß sie ein empörtes Schnauben aus. „Ha! Du tust ja so, als wäre das gar nichts … Ich kenne dich, mein Junge, du brauchst dich nicht zu verstellen. Lass es einfach raus.“
Johnny kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter so weitermachte, würden sich bald die Kopfschmerzen wieder melden. Er spürte schon ein unangenehmes Pochen hinter seinen Schläfen. Wieso, verdammt noch mal, hatte er sich kein Taxi gerufen? Konnte es sein, dass er irgendwo tief im Unterbewusstsein doch das Bedürfnis verspürte, sich von seiner Mutter trösten zu lassen wie ein kleiner Junge, der sich die Knie aufgeschlagen hatte? Die Vorstellung war absurd. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, vor ein oder zwei Monaten, hatte sie auf ihrem Samtsofa gesessen und ihn mit großen Augen angestarrt wie ein kleines Mädchen. Abgesehen davon, dass kleine Mädchen normalerweise keine Zigarillos rauchten. Dieser Bürokram macht mich ganz krank und du weißt doch, wie das geht! Der Steuerberater will Unsummen von mir, dabei habe ich es schwer genug. So ist das eben, wenn man allein ist. Aber ich habe mir immer zu helfen gewusst, seit mich dein Vater damals ...
Dann hatte sie wieder die alte Geschichte ausgegraben, darüber, dass sein Vater sie einfach weggeworfen hatte wie eine leere Zigarettenschachtel. Er war Bürgermeister von Haslach gewesen und sie folglich beinahe die First Lady of Hawaii, hätte er nicht im letzten Moment kalte Füße bekommen. Aber obwohl sein Vater sie schwanger und mittellos zurückgelassen hatte und sich seine Mutter seitdem mit einem Job im Callcenter durchschlug, war Violetta zufrieden, solange sie über ihr schweres Los jammern konnte. Und jetzt hatte ihr das Schicksal auch noch einen blinden Jungen aufgebürdet.
Johnny überlegte, ob er später ein Schlafmittel nehmen sollte, damit wenigstens diese Grübeleien aufhörten. Aber zusammen mit dem Alkohol? Andererseits: Was sollte denn passieren? Er spannte den Unterkiefer an. „Jetzt gib schon den Gin her!“
Zu seiner Erleichterung kam Violetta der Forderung nach. Johnny setzte die Flasche an die Lippen, aber allein von dem Geruch wurde ihm speiübel. Was machte er da bloß? Er musste in die Firma! Bestimmt wartete dort das reinste Chaos auf ihn. Wenn er im Krankenhaus mit Babsi telefoniert hatte, hatte er nichts als freundliche Genesungswünsche aus ihr herausbekommen. Es wurde Zeit, dass er sich selbst ein Bild von der Lage machte!
In diesem Moment setzte sich seine Mutter neben ihn an den Tisch. „Junge, stell die Flasche weg“, forderte sie. „Das ist nicht gut für deine … deine Nieren.“ Anscheinend hatte sie mit den Ärzten geredet. „Du weißt, dass du in ein paar Tagen zur Nachsorge musst, und bis dahin solltest du wirklich keinen Alkohol trinken!“
Bei diesen Worten waberte der Gestank nach Vanille und Nikotin noch eindringlicher zu Johnny herüber. Seine Mutter rauchte wie ein Schlot, wenn sie nervös war. Die Tatsache, dass ihr einziges Kind, ihr Vorzeigesohn, jetzt ein Wrack war, schien an ihrem ohnehin nicht sehr stabilen Nervenkostüm zu nagen. „Und du solltest nicht so viel rauchen, schon gar nicht in der Wohnung!“ Er tastete mit der rechten Hand nach der Tischplatte und stellte die Flasche vor sich ab.
„Wenn du wieder hier eingezogen bist, wirst du dich daran gewöhnen müssen“, gab sie kühl zurück.
Johnnys Puls beschleunigte sich und er sprang hastig auf. Er konnte spüren, dass der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, bedrohlich wackelte. „Wie bitte?“
„Na, allein kannst du wohl kaum bleiben. Und die große Wohnung in der Wiehre wird auf Dauer auch zu teuer sein, wenn du nicht mehr arbeitest.“
„Ich fahre jetzt nach Hause“, erwiderte Johnny kühl. Es kostete ihn alle Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Auch Violetta klang gereizt. „Junge! Wir müssen über deine Zukunft sprechen. Wie stellst du dir das überhaupt vor?“
„Einen Scheiß muss ich!“ Verzweifelt tastete sich Johnny an dem schmalen Bartresen entlang, um zur Wohnungstür zu gelangen.
„Rede nicht so mit mir.“ Violettas Stimme zitterte. Er hörte, dass sie aufstand, um ihm zu folgen. Ehe er an der Tür war, packten ihn ihre Finger am Arm. Sie zog ihn zu sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Zigarettenrauch stieg heiß neben seinem Gesicht auf und ihr Schluchzen dröhnte in seinen Ohren.
„Entschuldige“, presste er leise hervor.
„Bleib doch erst mal hier. Du kannst im Kinderzimmer schlafen. Musst du noch deine Sachen holen? Ich rufe dir ein Taxi, aber verabschiede dich vernünftig von deiner Mutter.“
Zögerlich legte Johnny eine Hand auf ihre Schulter. Die Vorstellung, wieder bei seiner Mutter einzuziehen, lähmte seine Gedanken viel mehr als der Schock, unter dem er noch immer stand. Aber er wusste, dass sie recht hatte: Es war, zumindest im Moment, das Beste. „Schon gut“, sagte er. „Bis später, Mutter.“
Mit diesen Worten löste er sich von ihr und tastete nach dem Türgriff. Das Metall lag angenehm kühl in seiner Handfläche. Die Wohnungstür fiel lautstark ins Schloss.
Johnny tastete sich eilig ein paar Meter an der Wand entlang, dann blieb er stehen. Endlich frische Luft. So frisch, wie die Luft im fünften Stock eines Achtzigerjahre-Plattenbaus in Haslach-Weingarten eben sein konnte. Und trotzdem war das jetzt alles, was ihm noch blieb. Seine Mutter hatte ausgesprochen, was er insgeheim schon seit seinem ersten Tag im Krankenhaus wusste – dass sein altes Leben vorbei war. Aber erst jetzt spürte er, wie ihm diese Gewissheit unerträglich langsam und beständig die Kehle zuschnürte.
Читать дальше