Es war nicht sehr zu merken, daß Jons fort war. Die Kinder wurden groß und gingen aus dem Hause, das war ein altes Gesetz. Michael war bei den Soldaten. Er trug eine blaue Reiteruniform und zog sie am ersten Tage aus, wenn er Urlaub hatte, um beim Schulzen zu arbeiten. Er war gern dort, in einer ordentlichen Wirtschaft, bei schweigsamen Leuten, und der Schulze liebte ihn mehr als seine eigenen Kinder. Es wurde viel darüber gesprochen im Dorf, aber es war so. Maria war im Kirchdorf beim Kantor im Dienst, und manchmal kam sie am Sonntag heimlich zum Meiler, um bei ihrem Vater zu sitzen.
Frau Marthe war noch ernster und strenger geworden. Sie lachte nie mehr, aber sie saß manchmal oben in der Kammer, wo Jons geschlafen hatte, eines seiner alten Schulhefte in der Hand, und blickte auf das kleine Fenster, hinter dem das Abendrot stand. Ja, sie würde zufrieden sein, auch wenn er nur ein Pfarrer werden würde, der das Brot und den Wein an die Gläubigen austeilte. Es war nicht viel in ihren Augen, aber er würde Kinder haben, und sie konnten höher steigen. Höher, als der Rauch des Meilers stieg. Sie fragte nicht viel danach, ob er glücklich oder unglücklich war in der großen Stadt. Er hatte zu arbeiten, wie sie alle gearbeitet hatten, und darauf zu sehen, daß er in allen Dingen der Erste sei.
Der Lehrer Stilling hatte keinen neuen Jungen mehr ausgewählt, der ihn auf der Pflanzensuche begleitet hätte. Doch saß er nun gegen Abend gern für eine Weile am Meiler, sah der dünnen Rauchsäule zu und sprach mit Jakob. Ihm allein hatte er einen genauen Bericht von der Reise gegeben.
»Ja, das war so eine Fahrt, Jeromin«, hatte er gesagt. »Mit der Holzkiste war es schon nicht ganz einfach, und nun kam noch der Buchfink dazu. Die Leute starrten, als kämen wir vom Amazonenstrom. Ich weiß ja, wie sie darauf aus sind, etwas für ihr Vergnügen zu finden, aber Jons wußte es noch nicht. Er dachte immer, daß sie auf sein Haar starrten, das doch unter dem Topf geschnitten war, aber ich weiß, daß sie auf meinen Mantel und auf meinen Zylinder starrten. Sie wußten wohl nicht, ob ich ein russischer Fürst oder ein Kutscher in Livree war.
Ja, und in der Stadt war es nun noch schlimmer. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit ich dagewesen bin, und sie fahren jetzt auf Schienen, in Wagen, die von Pferden gezogen werden. Ein Mann in einem blauen Hemd wollte unsere Kiste tragen, aber wir merkten den Braten. ›Das kennen wir‹, sagte Jons und trat ihm auf die Füße. Der Mann schimpfte mit unflätigen Worten, und alle Leute blieben stehen, aber wir trugen unsere Kiste selbst. Jons war tapfer, wenn auch seine Augen verstört waren.
Wir fanden denn auch schließlich die Pension, und es war ja nicht ganz so, wie es in den Briefen gestanden hatte, aber das Wort ist ja trügerisch. Es ist eine Mutter mit drei Töchtern, und alle sind sehr groß und schwarz gekleidet, und sie wollen gut für Jons sorgen. Ich bestand darauf, daß er ein kleines Zimmer für sich allein bekam, denn es sind viele Kinder da, und sie würden ihn ablenken.«
»Wohin sieht man aus dem Fenster?« fragte Jakob leise.
»Ja, das ist ja nun nicht so wie hier, Jeromin. Es ist eine Mauer, aber sie ist ganz schön grau, und Jons war es auch zufrieden. Und eine von den Töchtern sagte, daß am Abend die Sonne hineinscheine. Wir konnten es nicht sehen, denn es war ein trüber Tag.
Dann gingen wir noch etwas in die Stadt und sahen die großen Gebäude an und den Strom mit den Schiffen. Die Füße taten uns etwas weh, und wir waren ein bißchen taub von dem Lärm, aber am Abend saßen wir dann still in der Kammer von Jons und wiederholten unser Pensum. Jons wußte noch alles.
Und dann war die Prüfung am nächsten Tag. Das war großartig, Jeromin. Zuerst hatten sie uns so komisch angesehen, der Direktor und alle die gelehrten Herren. Und einer hatte gefragt, ob ich auch wirklich Lehrer sei. Aber dann, als es fertig war, da kamen sie alle und sagten, es sei ›phänomenal‹. Und sie schüttelten mir die Hand und sagten, sie könnten es ruhig mit der Quarta versuchen. Jons war ganz blaß und sagte nichts.«
»Und was ist ›phänomenal‹?« fragte Jakob wieder leise.
Der Lehrer erklärte es, und dann erzählte er, wie er am Nachmittag abgefahren sei. Jons habe auf dem Bahnsteig gestanden, ganz klein und schmal in der großen Halle, und einen Augenblick lang – ja, das müsse er wohl bekennen –, einen Augenblick lang sei sein Herz unsicher geworden, oh sie auch recht daran getan hätten, ihn dorthin zu bringen und ihn dann dort stehenzulassen, so allein unter den riesigen Glasdächern, ja, wie ein kleiner Waldpilz in einem großen Gewächshaus.
Jakob nickte. »Er muß es nun zeigen«, sagte er in seiner stillen Weise, »ob wir recht getan haben oder nicht.«
Er und Christean trugen am schwersten daran, daß Jons fort war, aber beide glaubten, daß etwas Großes aus ihm werden würde. Das Große war für sie anders als für die Mutter, und für Jakob war es noch anders als für Christean. Für den Krüppel war das Größte ein Mann, der die Bücher schrieb, die er manchmal in den Händen halten konnte, und es war gleich, ob sie von den Sternen handelten oder vom Evangelium. Er dachte ihn sich wie das Bild in Herrn Stillings Stube, wo ein Mann, der Hieronymus hieß, an einem großen Tische saß, und zu seinen Füßen lag ein Löwe, der die Blätter bewachte, auf denen er schrieb.
Für Jakob aber war er ein Mann, der in einem offenen Wagen durch das Land fuhr und Recht sprach. Er wußte nicht genau, was er nun für ein Amt hatte. Am ehesten war es zu denken, daß der König ihn ausgeschickt hatte und daß er keine anderen Herren über sich hatte als den König und Gott. Und mit diesem Amt würde er die Gerechtigkeit auf den Acker bringen, in alle kleinen Dörfer, denn von den kleinen Dörfern lebte das Land. Nicht von den Städten, wo Männer in blauen Hemden Holzkisten stehlen wollten und wo man aus seinem Fenster auf eine graue Mauer sah.
War dann der Lehrer gegangen, schien ihm der Wald so ungeheuer groß und leer, wie er es niemals gewesen war. Niemals würde Jons anders zurückkommen als für ein paar Tage oder Wochen. Er würde dort bleiben müssen, in der großen Stadt, und er würde nur ein Besuch sein wie die Söhne, die aus den Kohlenbergwerken kamen, um ihren Frauen die Heimat zu zeigen. Auch Michael und Gotthold waren gegangen, aber sie hatten niemals in seinem Herzen gewohnt. Dort hatte nur Jons gewohnt, und nun war es eine öde Stätte geworden. »Aber Hagel wird sein den Wald hinab, und die Stadt danieden wird niedrig sein.« So war es geworden, und er hatte seine Hand dazu gereicht, ja, er hatte den Zaudernden gestoßen. Noch viel unsicherer war er als der Lehrer dort auf dem Bahnsteig, und sicher konnte man nur werden, wenn man nicht an sein Herz dachte, sondern an Jons. Auch Abraham war gehorsam gewesen, und mehr hatte der Herr von ihm verlangt, als er nun von Jakob verlangte.
Lag er dann zur Nacht auf seinem Lager und der erste leise Schlaf kam über seine Augen, so fuhr er manchmal auf wie früher, wenn es im Meiler geknistert hatte, und lauschte, ob sich nicht hinter dem Herd etwas in der anderen Laubstreu rühre. Aber es war nur eine Waldmaus gewesen. Der Mond schien über die Schwelle, und Jakob versuchte sich vorzustellen, wie hoch eine Mauer wohl sein dürfe, damit der Mond über sie hinweg in ein Fenster scheinen könne. Wenn die Sonne schon nicht hineinschiene – und er war überzeugt, daß die vier schwarzen Frauen die Unwahrheit gesagt hatten –, so mußte es doch wenigstens der Mond sein. Nur in Bergwerken scheine weder Sonne noch Mond, noch Sterne, und in ein Bergwerk hatte er Jons doch nicht geschickt.
Langsam verwirrten sich seine Gedanken wieder, und er sah Jons in einem dunklen Schacht begraben, aber es war nicht Kohle oder Erz, was über ihm lag, sondern Bücher und Bücher, ein ganzes Gebirge von Büchern, und obenauf saß der alte Lehrer und spielte auf einer ungeheuren Orgel.
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