Gleichwohl hat in der Seelsorge auch das persönliche Bekenntnis Platz, mit dem Supervisor*innen umgehen und worauf einzugehen sie in der Lage sein müssen. Hier sind sie herausgefordert, ihre eigene Haltung zu reflektieren. Ob diese nun explizit ins Spiel kommt oder nicht, es geht darum, »einen Raum dafür zur Verfügung zu stellen, so dass die Seelsorger*innen ihrerseits den Themen ihres Gegenübers Geltung verschaffen, ohne durch ontologische Festlegungen in einen Streit um die Wahrheit zu geraten« (Schaab, 2019, S. 2).
Im Bewusstsein, dass auch identische Begriffe unterschiedlich gedeutet werden können, suchen Seelsorgende nach einer gemeinsamen geistlichen Gesprächsebene. Es klang schon an, dass der eigene Umgang mit der geistlichen Welt eine innere Bereitschaft bahnt, die Anliegen des Gegenübers in einer entsprechenden Dimension zu verorten. Sie trägt außerdem dazu bei, den eigenen Glauben in eine Sprache zu fassen, die für Menschen mit unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen anschlussfähig ist. Auch biblische Texte können bei der Bearbeitung von konkreten Berufssituationen eine Heuristik zur Verfügung stellen und weitere Deutungsebenen anbieten. Wo Sprache in der Seelsorge nicht genügt, bieten sich für die Beschäftigung mit transzendenten Fragen – für die letztlich nur immanente Möglichkeiten zur Verfügung stehen – Rituale an (z. B. Kerze entzünden, Psalmen beten, Lieder singen, Salbung und Segen spenden), deren Wirkungen nicht im Darüber-reden liegen, sondern im Vollziehen erlebbar werden (Nassehi, 2018).
Ein weiteres Supervisionsthema, das mit gesellschaftlichen Veränderungen einhergeht, ist der Bedeutungsverlust von Kirche. Wer sich – wie vermutlich die meisten beruflich tätigen Seelsorger*innen – mit der Kirche und ihrem Auftrag identifiziert, empfindet Gleichgültigkeit und Zurückweisung dessen, was ihm/ihr heilig ist, nicht selten als persönlichen Schmerz. Hier eine von Freiheit geprägte, distanziertere Haltung zu entwickeln, mit der Betreffende frustrationstolerant und handlungsfähig bleiben und kreativ an neuen Wegen der Seelsorge und Verkündigung arbeiten, ohne jedem Trend nachzulaufen oder dem etwas entgegensetzen zu müssen, kann besonders in der Gruppensupervision sehr lebendige Prozesse in Gang setzen.
3.4 Kirchliche Mitarbeit zwischen Privilegien und Restriktionen
»Der Begriff Lebensführung hat gerade wieder Konjunktur (…). Es sieht so aus, als würde die Frage danach, wie man sein Leben unter den gegebenen Bedingungen führen kann und soll, viele umtreiben. «(…). Mit der ›Alltäglichen Lebensführung‹ liegt seit den späten 80er Jahren ein Konzept vor, das Gesellschaft aus dem Alltag heraus begreift und den Blick darauf richtet, wie Personen diesen Alltag unter den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen organisieren. Die Rahmenbedingungen verändern sich jedoch derzeit rasant: Der Druck in der Erwerbs- und Care-Arbeit macht krank. Teilhabechancen polarisieren sich, sozialstaatliche Institutionen werden umgebaut, neue Technologien bestimmen den Alltag«. (ALF 2018, S. 1)
So lautete der Einladungstext des Instituts für sozialwissenschaftliche Information und Forschung isifo zu einer Tagung 2018 mit dem Thema Transformation alltäglicher Lebensführung.
Bei den Lebensführungsfragen der großen Kirchen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts ergeben sich dabei durch ihren Tendenzschutz und Tendenzbetrieb- Status daraus abgeleitete bestimmte Besonderheiten im Arbeitsrecht. So können die Kirchen ihren beruflich Tätigen Vorschriften in Fragen der Lebensführung machen und haben dem öffentlichen Dienst ähnliche, aber nicht gleiche Vergütungssysteme. Statt auf das Mitbestimmungsrecht von Gewerkschaften setzen sie in Fragen des Arbeitsrechts auf eigene Schieds- und Schlichtungsstellen, vor denen arbeitsrechtliche Fragen verhandelt werden, den so genannten Dritten Weg.
»Als erster Weg wird das Recht der Kirche bezeichnet, durch einseitige, gerichtlich nicht überprüfbare Regelungen den Inhalt von Arbeitsverhältnissen selber zu bestimmen. Da das BAG ein solches Recht nicht anerkannt hat und entsprechende Regelungen einer Rechtmäßigkeits- und Billigkeitskontrolle unterwirft, haben die Kirchen hiervon Abstand genommen. Sie haben jedoch auch nicht Tarifverträge abgeschlossen, d. h., den sogenannten zweiten Weg gewählt, sondern setzen stattdessen durch paritätische Kommissionen die Grundregeln ihrer Arbeitsverhältnisse selber fest. Den Abschluss von Tarifverträgen verweigern die Kirchen in aller Regel. Sie konnten dies durchsetzen, da es bis vor kurzem noch herrschende Meinung unter den Juristen war, dass Kirchenangestellte nicht streiken dürfen. Dies sollte so sein, weil es angeblich keinen Interessenkonflikt zwischen der Kirche und ihren Mitarbeitern gibt, da beide gemeinsam einen geistig-religiösen Auftrag erfüllen und einen Dienst an der kirchlichen Gemeinschaft leisten, hinter dem z. B. finanzielle Interessen der Arbeitnehmer auf einen angemessenen Lohn zurückstehen müssen (…). Im Individualarbeitsrecht werden den Kirchen weitgehende Rechte eingeräumt, in die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter einzugreifen.« (Heinrich, 2012, S. 1)
Vor allem das Pfarrdienstgesetz, das 2011 innerhalb der EKD für die Landeskirchen vereinheitlicht wurde, und die jeweiligen Ausführungsgesetze enthalten Bestimmungen zur Lebensführung. Vorschriften zur Lebensführung gelten auch bei der katholischen Kirche für alle Angestellten, nicht nur für Geistliche. Lebensführungsordnungen betreffen im Übrigen auch die Lebensführung leitender Ehrenamtlicher, deren Regeln sind aber nicht justiziabel, da Ehrenamtliche keinen Arbeitsvertrag haben und bei »Fehlverhalten« nicht dienstrechtlich sanktioniert werden können. Hinter den gesetzlichen Bestimmungen stehen normative Vorstellungen davon, wie »richtiges« christliches Leben auszusehen habe, die sich wiederum von Kirche zu Kirche unterscheiden. Z.B. gilt in der Katholischen Kirche, dass die Ehe ein Sakrament ist und von daher als unauflöslich betrachtet wird, was dazu führt, dass Angestellte der Katholischen Kirche die Kündigung riskieren, wenn sie zum zweiten Mal heiraten wollen. Jüngste Gerichtsurteile kommen allerdings zu anderen Ergebnissen. Im Jahr 2010 hat der EuGH eingegriffen und die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt. Demnach sind nun in jedem Einzelfall die Interessen der Kirchen gegen die Rechte des Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens abzuwägen (v. 23.09.2010 1620/03). Das BAG hat daher in seiner letzten Entscheidung zur Kündigung eines katholischen Chefarztes wegen Wiederverheiratung (8.11.2011, 2 AZR 543/10) das Recht des Arztes auf ein Leben in geordneter Ehe betont und die Kündigung für rechtswidrig erklärt, »zumal die Kirche das unverheiratete Zusammenleben zwei Jahre lang toleriert hatte« (A.a.O.). Hier zeigt sich, dass die Stellung der Kirchen als Tendenzbetrieb längst nicht mehr unangefochten ist. In der Evangelischen Kirche gibt es darüber hinaus Vorschriften zur Residenzpflicht, Ehepartner von Geistlichen müssen vor der Hochzeit dem Bischof vorgestellt werden, Bestimmungen über die Religionszugehörigkeit bzw. Konfession des Ehepartners von Geistlichen, Bestimmungen über die Taufpflicht von Kindern aller kirchlichen Mitarbeitenden, auch der Ehrenamtlichen, Sanktionen wie Versetzungen bei moralischem Fehlverhalten von Pfarrer*innen wie bei ehelicher Untreue mit einem anderen verheirateten Partner, Bestimmungen zur sexuellen Orientierung, u. a.m., wobei die einzelnen Kirchen sehr verschieden strikt mit diesen Vorschriften umgehen.
Supervision als berufliche Beratung in den pastoralen Arbeitsfeldern hat nun häufig mit den damit zusammenhängenden Fragen zu tun. Denn die in der modernen Arbeitswelt geltende Trennung von Berufs- und Privatleben scheint für das pastorale Arbeitsfeld so nicht zu gelten. Da besonders die Rolle des*der Pfarrer*in weithin immer noch als Totalrolle verstanden wird (theologisch gesehen eine katholische Sichtweise, aber im evangelischen Bereich oft genauso wirksam), sind Fragen der Abgrenzung von Privat- und Berufsleben, der nicht beruflichen Freiräume, der Umgang und die Überforderung durch die hohen Ideale und die sich dadurch auftuenden Ambivalenzen (geistlich – weltlich, Gotteswort – Menschenwort, Beruf – Berufung, Schlüsselberuf – Teamplaying, Generalist*in – Spezialist*in, Privatheit – Öffentlichkeit), die mit der Vorstellung einer Totalrolle einhergehen, häufige Supervisionsthemen. »Die Pfarrrolle lässt sich soziologisch als Totalrolle beschreiben, in der die enge Verbindung von Amt und Person eine besondere Herausforderung an die Gestaltung des Pfarrberufs darstellt. Es gilt, die Pfarrrolle so zu gestalten, dass die Person nicht dahinter verschwindet, da gerade diese der Pfarrrolle zu ihrer besonderen Kontur verhilft.« (Winkelmann, 2019, S. 421)
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