Er ging auf die kleine Gaststube zu; aber aus der mussten erst die drei Müllerburschen hinausbefördert werden; und während der ganzen Zeit, da für ihn gedeckt wurde, blieb Binet stumm auf seinem Platz neben dem Ofen stehen; dann schloss er die Tür und nahm seine Mütze ab, wie er stets zu tun pflegte.
»Der nutzt sich die Zunge nicht durch Höflichkeitsfloskeln ab!«, sagte der Apotheker, sobald er mit der Wirtin allein war.
»Mehr sagt er nie«, antwortete sie; »letzte Woche sind zwei Tuchreisende hier gewesen, lustige Brüder, die den ganzen Abend lang einen Haufen so komischer Sachen erzählt haben, dass ich Tränen lachen musste, und er hat dagesessen wie ein Stockfisch, ohne ein Wort zu sagen.«
»Ja«, sagte der Apotheker, »keine Phantasie, keine witzigen Einfälle, nichts, was einen Mann der Gesellschaft ausmacht!«
»Dabei heißt es, er sei bemittelt«, wandte die Wirtin ein.
»Der und bemittelt?«, entgegnete Homais. »Der? Na, bei seiner Stellung ist es immerhin möglich«, fügte er in ruhigerem Tonfall hinzu.
Und er fuhr fort:
»Ja, wenn ein Kaufmann mit ausgedehnten Beziehungen, wenn ein Rechtsanwalt, ein Arzt, ein Apotheker so absorbiert werden, dass sie Sonderlinge oder sogar Griesgrame werden, dann verstehe ich das; Beispiele dafür werden in den Geschichtswerken angeführt! Aber das rührt dann wenigstens davon her, dass sie sich über irgendwas Gedanken machen. Wie oft ist es zum Beispiel mir passiert, dass ich auf meinem Schreibtisch nach meinem Federhalter gesucht habe, weil ich ein Schildchen schreiben wollte, und schließlich merkte ich dann, dass ich ihn mir hinters Ohr gesteckt hatte!«
Inzwischen war Madame Lefrançois auf die Haustürschwelle getreten, um nachzusehen, ob die »Schwalbe« noch immer nicht komme. Sie erbebte. Ein schwarzgekleideter Mann betrat plötzlich die Küche. Im letzten Dämmerlicht waren sein kupferrotes Gesicht und sein athletischer Körper zu erkennen.
»Was steht zu Diensten, Herr Pfarrer?«, fragte die Wirtin und nahm vom Kamin einen der Messingleuchter, die dort mit ihren Kerzen eine Säulenreihe bildeten. »Wollen Sie was trinken? Ein Schlückchen Johannisbeerlikör oder ein Glas Wein?«
Der Geistliche dankte äußerst höflich. Er wolle seinen Regenschirm abholen, den er neulich im Kloster Ernemont habe stehen lassen; und nachdem er Madame Lefrançois gebeten hatte, ihn im Lauf des Abends ins Pfarrhaus zu schicken, ging er, um sich zur Kirche zu begeben, wo das Angelus geläutet wurde.
Als der Apotheker den Hall seiner Schuhe auf dem Marktplatz nicht mehr vernahm, fand er, jener habe sich soeben sehr ungebührlich benommen. Das Abschlagen einer angebotenen Erfrischung dünke ihn eine ganz abscheuliche Heuchelei; die Priester becherten alle, wenn man sie nicht sehe, und führten am liebsten die Zeiten des Zehnten wieder ein.
Die Wirtin übernahm die Verteidigung ihres Pfarrers:
»Übrigens würde er vier wie Sie übers Knie legen. Letztes Jahr hat er unsern Leuten beim Stroheinfahren geholfen; bis zu sechs Bund auf einmal hat er getragen, so stark ist er!«
»Bravo!«, sagte der Apotheker. »Schickt nur eure Töchter zu solchen Kraftprotzen zur Beichte! Wenn ich die Regierung wäre, würde ich anordnen, die Priester einmal im Monat zur Ader zu lassen. Ja, Madame Lefrançois, alle Monat eine gehörige Phlebotomie, im Interesse der Ordnung und der Sittlichkeit!«
»Seien Sie doch still, Monsieur Homais! Sie sind gottlos! Sie haben keine Religion!«
Der Apotheker antwortete:
»Ich habe eine Religion, meine eigene Religion, und ich habe sogar mehr davon als alle diese Leutchen mit ihrem Mummenschanz und ihren Gauklerkünsten! Selbstverständlich verehre ich Gott! Ich glaube an ein höchstes Wesen, an einen Schöpfer – wer er ist, das geht mich nichts an –, der uns hierher gesetzt hat, damit wir unsere Pflichten als Staatsbürger und Familienväter erfüllen; aber ich habe nicht das Bedürfnis, in eine Kirche zu gehen, dort Silberschüsseln zu küssen und aus meiner Tasche eine Bande von Possenreißern zu mästen, die sich besser nähren als wir! Man kann ihn ebenso gut in einem Wald verehren, auf freiem Feld oder meinetwegen sogar im Sichversenken in die Himmelsweiten, wie die Alten. Mein Gott ist der Gott Sokrates’, Franklins, Voltaires und Bérangers! Ich bin für das ›Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars‹ und die unsterblichen Grundsätze von ’89! Daher glaube ich nicht an den guten Mann von liebem Gott, der mit dem Spazierstock in der Hand durch seinen Garten schlendert, seine Freunde in einem Walfischbauch einquartiert, mit einem Schrei stirbt und nach drei Tagen wieder aufersteht: das alles ist Unsinn und überdies gegen alle Gesetze der physischen Welt; was uns, nebenbei gesagt, beweist, dass die Pfaffen von je in schmählicher Unwissenheit gelebt haben, in die sie am liebsten die ganze Menschheit mit hineinzögen.«
Er verstummte und suchte mit den Augen rings um sich her nach einem Publikum; denn in seinem Überschwang hatte der Apotheker für kurze Zeit geglaubt, er spreche vor dem voll versammelten Gemeinderat. Aber die Gastwirtin hörte nicht mehr zu; sie lauschte auf ein fernes Rollen. Man unterschied das Rasseln eines Wagens, vermischt mit dem Klappern lockerer Hufeisen auf dem Erdboden, und endlich hielt die »Schwalbe« vor der Tür.
Es war ein gelber Kasten auf zwei großen Rädern, die bis fast an das Wagenverdeck hinaufreichten, den Fahrgästen die Aussicht raubten und sie an den Schultern bespritzten. Die kleinen Scheiben der Fenster klirrten in ihren Rahmen, wenn der Wagen geschlossen war, und auf ihrer alten Staubschicht klebten hier und dort Schmutzspritzer, die nicht einmal die Gewitterregen völlig abwuschen. Sie war mit drei Pferden bespannt, deren erstes als Vorspannpferd ging, und beim Bergabfahren holperte sie und streifte hinten den Boden.
Ein paar Yonviller Bürger kamen auf den Marktplatz; alle redeten gleichzeitig, fragten nach Neuigkeiten, Erklärungen und Körben; Hivert wusste gar nicht, wem er zuerst antworten sollte. Er pflegte nämlich in der Stadt allerlei Aufträge aus dem Dorf zu erledigen. Er ging in die Läden, brachte dem Schuster Lederrollen mit, dem Hufschmied Roheisen; für seine Herrin eine Tonne Heringe, holte Hauben bei der Modistin ab, vom Friseur Perücken, und auf dem Rückweg verteilte er längs der Fahrstrecke seine Pakete, indem er sie einfach über die Hecken der Einfriedigungen warf, wobei er auf dem Kutschbock aufstand und aus voller Kehle schrie, während seine Pferde frei weiterliefen.
Ein Zwischenfall hatte ihn aufgehalten; Madame Bovarys Windspiel war querfeldein davongelaufen. Man hatte eine gute Viertelstunde nach ihm gepfiffen. Hivert war sogar eine halbe Meile zurückgefahren; jede Minute hatte er geglaubt, es zu erblicken; aber schließlich hatte die Fahrt fortgesetzt werden müssen. Emma hatte geweint und war ganz außer sich gewesen; sie hatte Charles die Schuld an dem Unglück gegeben. Monsieur Lheureux, der Stoffhändler, der mit ihr im Wagen saß, hatte sie durch eine Menge Beispiele von verlaufenen Hunden zu trösten versucht, die ihren Herrn nach langen Jahren wiedererkannt hätten. Von einem werde erzählt, so sagte er, dass er von Konstantinopel wieder nach Paris gelaufen sei. Ein anderer habe fünfzig Meilen in gerader Linie zurückgelegt und vier Flüsse durchschwommen; und sein leiblicher Vater habe einen Pudel besessen, der ihn nach zwölfjähriger Abwesenheit eines Abends auf der Straße von hinten her angesprungen habe, als er zum Essen in die Stadt gegangen sei.
Emma stieg als erste aus, dann folgten Félicité, Lheureux, eine Amme, und Charles musste in seiner Ecke geweckt werden, wo er bei Einbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen war.
Homais stellte sich vor, bezeigte Madame seine Wertschätzung, tat mit Monsieur höflich, sagte, er sei beglückt, bereits Gelegenheit gehabt zu haben, ihnen beiden gefällig zu sein, und fügte mit herzlicher Miene hinzu, er habe es auf sich genommen, sich selber einzuladen, seine Frau sei nämlich verreist.
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