3. Die „eigenen Angelegenheiten“
a) Begriff und Umfang
Seinem geschichtlichen Entstehungskontext geschuldet, diente die Definition der „eigenen Angelegenheiten“ der Entkopplung von Staat und Kirche und war daher in Abgrenzung zu staatlichen Angelegenheiten auszulegen. 67Dieser Ansatz wird heute in der sog. „Bereichsscheidungslehre“ sowie in der älteren Rechtsprechung des BVerfG 68und wohl noch vom BVerwG 69vertreten, wobei davon ausgegangen wird, dass der Staat generell nicht in die inneren Verhältnisse der Religionsgemeinschaften eingreifen dürfe. 70
Die „Bereichsscheidungslehre“ gilt in der neueren Literatur 71als weitgehend überholt und auch die Rechtsprechung des BVerfG 72und des BGH 73tendiert zu einer umfassenderen Betrachtung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass sich die zu regelnden Lebensbereiche häufig nicht schematisch dem Staat oder der Religionsgemeinschaft zuordnen lassen. 74Die eigenen Angelegenheiten werden als derjenige Bereich betrachtet, den die Religionsgemeinschaften nach ihren Vorstellungen behandeln dürfen. 75Die Reichweite des Schutzbereichs unterliegt damit zunächst der Definitionsmacht der Religionsgemeinschaft nach ihrem Selbstverständnis. 76
Zu den eigenen Angelegenheiten im engeren Sinne gehört die Festlegung von Lehre und Kultus in Bezug auf Bekenntnisgrundlagen, Ausbildung von Geistlichen, Verkündigung der Lehre sowie die Ausgestaltung der einzelnen Gottesdiente. 77Ferner zählt hierzu die Bestimmung der Verfassung und der Organisationsstruktur, da insbesondere staatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip für die Religionsgemeinschaft keine zwingende Wirkung entfalten. 78Die besonders gewichtigen Angelegenheiten gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV beinhalten ebenfalls karitative sowie diakonische Tätigkeiten der Kirche einschließlich der damit verbundene Kranken-, Jugend-, Familien-, Alten- und Behindertenhilfe. 79Nach einhelliger Ansicht zählt die Ausgestaltung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse durch privatrechtliche Arbeitsverträge zu den „eigene Angelegenheiten“ gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV. 80
b) Prozessuale Darlegungs- und Beweislast
Die Religionsgemeinschaften sind hinsichtlich des Vorliegens der von ihnen beanspruchten „eigenen Angelegenheiten“ vor staatlichen Fachgerichten darlegungs- und beweisbelastet. 81Nach Auffassung des BVerfG dürfen die Gerichte kirchliche Vorgaben und Entscheidungen gleichwohl nicht nach „weltlich“-objektiven Maßstäben bewerten. 82Vielmehr entfalte die ggf. durch die Einschätzung eines theologischen Sachverständigen belegte Einschätzung der Religionsgemeinschaft eine bindende Wirkung, auf deren Grundlage das Fachgericht ohne inhaltliche Prüfung zu urteilen habe. 83Diese Definitionshoheit finde ihre Grenze allein in den Grundprinzipien der Rechtsordnung, wie dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), den „guten Sitten“ i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB sowie dem „ordre-public“ -Vorbehalt (Art. 6 EGBGB). 84Insoweit unterliege der kirchliche Vortrag einer fachgerichtlichen Plausibilitätskontrolle. 85
III. Auslegung der „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“
Aufgrund der Definitionsmacht der Religionsgemeinschaften bei der Bestimmung des Schutzbereichs eigener Angelegenheiten sind die verfassungsgesetzlich normierten Schranken des Selbstbestimmungsrechts von besonderer Bedeutung. 86Obgleich Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV nur von der Sicherung des Selbstbestimmungsrechtes „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ spricht, erstreckt sich sein Anwendungsbereich nach allgemeiner Ansicht auch auf die Freiheit der Ämterverleihung gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 2 WRV. 87Es ist im Übrigen nach wie vor umstritten, wie die Schrankenregelung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV zu verstehen ist. 88
Zur Zeit der Entstehung der Weimarer Reichverfassung wurde die Schrankenregelung streng wörtlich als das Gesetz, das für „jedermann“ gilt, ausgelegt. 89Das Wort „alle“ wurde von der herrschenden Weimarer Staatsrechtslehre also nicht „adjektivisch“ in Bezug auf die Religionsgesellschaften verstanden, sondern „substantivisch“. 90
Mit der sog. „Heckel’schen Formel“ 91wurde demgegenüber der Schrankenregelung ein materieller Sinngehalt zugewiesen. 92 Johannes Heckel kritisierte eine die Freiheit der Religionsgesellschaften durch die für alle Vereine geltenden Gesetze einschränkende Auslegung, da die kirchliche Autonomie einen „Unterfall“ bürgerlicher Freiheiten bilde. 93Er vertrat eine prinzipielle Gleichordnung von Staat und Kirche. 94Er war der Auffassung, ein „für alle geltendes Gesetz“ sei ausschließlich ein solches, das bei gleichzeitiger Anerkennung der Autonomie der Kirche „[…] im Sinn der Verfassung für den Bestand der Gesamtnation als einer politischen, kulturellen und Rechtsgemeinschaft unentbehrlich […]“ sei. 95
Auch wenn die „Heckel‘sche Formel“ als solche nicht mehr vertreten wird, ist sie auch in der jüngeren Literatur noch Gegenstand der Diskussion. 96Nach Auffassung ihrer Kritiker würden immer wieder Gesetze des Bau- oder Polizeirechts die Kirchen binden, ohne dass hierbei eine Unentbehrlichkeit für die Gesamtnation feststellbar sei. 97Umgekehrt sei – wie ein Blick in die Vergangenheit zeige – nicht jedes für die Gesamtnation „unentbehrliche“ Gesetz für die Religionsgemeinschaft zumutbar. 98Ferner sei die Formel aufgrund ihrer pauschalen Formulierung wenig praktikabel und verhindere einen strukturierten und rational geführten Prozess der praktischen Konkordanz kollidierender Rechtsgüter. 99Ein gleichstufiges Verhältnis von Staat und Kirche sei schließlich nicht mit dem modernen Verständnis einer dem Grundgesetz und dem souveränen Staat untergeordneten Kirche vereinbar. 100
2. „Bereichslehre“ und „Jedermann-Formel“
a) Konzept
Im Anschluss an die Formel Heckels setzte sich die sog. „Bereichslehre“ durch, nach der zwischen dem Innenbereich und dem Außenbereich kirchlicher Angelegenheiten zu unterscheiden sei. 101Die Schrankenregelung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV solle nicht bei inneren Angelegenheiten wie der Entscheidung über Kult und Ämter, sondern lediglich bei Entscheidungen, die Rechte Dritter berühren, Anwendung finden. 102
Das BVerfG entwickelte für den Anwendungsbereich der Schrankenklausel im Außenbereich die sog. „Jedermann-Formel“, wonach ein „für alle geltendes Gesetz“ nur ein solches sei, das die Religionsgemeinschaft in gleicher Weise treffe wie andere Personen und Verbände. 103Die Religionsgemeinschaft sei aber nicht gleich betroffen, wenn das Gesetz die Religionsgemeinschaft in ihrer Besonderheit „härter“ treffe, indem es ihr Selbstverständnis und damit ihren „geistig-religiösen Auftrag“ beschränke. 104Diese sich an der Auslegung der Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG orientierende Formel dient insbesondere der Verhinderung von Sondergesetzen, wie sie im Rahmen des Bismarck’schen Kulturkampfes erlassen wurden. 105
b) Rechtswissenschaftliche Rezeption
Obgleich die „Bereichslehre“ auch von der Rechtsprechung 106lange angewendet wurde, war sie stets der Kritik ausgesetzt. 107Ihr Vorteil könne zwar darin gesehen werden, dass sie zu vorhersehbareren Entscheidungen führe, da die gerichtliche Entscheidungsfindung keine Abwägung im Einzelfall voraussetze. 108Allerdings liege der „Bereichslehre“ selbst bereits eine Abwägungsentscheidung zugrunde. 109Der Bereich der inneren Angelegenheiten werde von vornherein ohne transparente Argumentationslinie in einer Weise gewichtet, die eine staatliche Einwirkung gänzlich ausschließe. 110Aber auch umgekehrt verhindere die „Bereichslehre“ die Möglichkeit, durch den Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter eine Einzelfallgerechtigkeit sicherzustellen. 111Ferner finde die Aufspaltung der eigenen Angelegenheiten in innere und äußere Bereiche keine Stütze im Wortlaut der Norm. 112
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