Anna wagte vorsichtig anzumerken: »Ist es nicht naturgemäß und allzu verständlich, dass der technische Leiter hofft, der Fehler liege nicht in seinem Zuständigkeitsbereich? Immerhin kam durch den einzigartigen – wie heißt der? Moving Light? – na, durch den fantastischen Drehscheinwerfer ein Mensch zu Tode. Hat dieser Herr Frille« – Habakuk schmunzelte, weil Anna ihn »Herr Frille« nannte – »also dieser Frille seine Bedenken der Polizei vorgetragen?«
»Und ob«, wusste Habakuk, der mit Frille heute schon ein längeres Telefonat geführt hatte. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, die Polizei nimmt Frilles Bedenken durchaus ernst. Aber ich habe im Gegensatz zu ihm keinen Grund und schon gar keine Berechtigung, mit irgendwelchen kruden Verdächtigungen durch die Gegend zu ziehen. Rein formal war es ja noch nicht einmal mein Instrument.«
Anna saß aufrecht auf ihrer Plüschsesselkante. Durch ihren Kopf schoss alles Mögliche – Versicherungsbetrug, Instrumentenmafia, fahrlässige Tötung, Mord … Außer dass sie diesen Austausch mit Habakuk unendlich genoss und fortsetzen wollte, hatte sie das verführerische Gefühl, dass das hier ihre große Enthüllungsstory sein könnte, der Beweis, dass sie mehr konnte, als Musikkritiken zu schreiben. Sollte keine große Story dahinterstecken, bot ihr Habakuks Erzählung wenigstens einen Ausweg aus dem momentanen Kramer-Dilemma. Sie sagte: »Ich weiß, wie wir vorgehen!«
»Hast du das jetzt wirklich gemacht?« Habakuk war erschüttert.
»Ja, klar!«, sagte Anna so cool wie möglich. Dabei war sie über sich selbst verblüfft.
»Du hast mich nicht mal gefragt …«
»Ja, aber du hast mir das alles doch nicht völlig absichtslos erzählt, oder?«
»Stimmt. Und du hältst mich nicht für paranoid?«
»Nicht mehr als andere. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was du gesagt hast, muss man dem nachgehen. Kramer ist übrigens dabei.«
»Kramer?«
»Mein Ressortleiter. Der Mann, der abnicken muss, wenn ich so wertvolle Ressourcen wie meine Arbeitszeit damit vergeude, loszuziehen, mit meinem Presseausweis zu wedeln und unliebsame Fragen zu stellen.«
»Anna?«
»Wir verfolgen die Spur. Presse, die vierte Macht im Staate …« Annas Kampfgeist war geweckt.
Dem vorausgegangen war ein langes Telefonat mit Kramer, Folge ihrer Ankündigung Habakuk gegenüber, zu wissen, wie sie – der Plural entsprang ihrer Überzeugung – vorgehen sollten.
Kramer hatte für seine Verhältnisse sehr schnell abgehoben. »Ach, Anna! Noch unter den Lebenden? Hast du dich endlich vom Schock erholt?« Ein ungewohnt zynischer Unterton schwang in seiner Ansprache mit. »Ich habe Schrottheimer erklärt, dass du erst einmal fertig werden musst mit so viel Blut und Trümmern. Hat man ja sonst im Konzert nicht allzu oft.«
Uuh, das hätte unter normalen Umständen gesessen, aber inzwischen hatte Anna einen Joker in der Tasche, den sie genüsslich hervorgekramt hatte. Okay, sie hatte die Geschichte ein bisschen geschönt: Schon gestern Abend habe ein »Informant« ihr gegenüber berechtigte Zweifel geäußert an der Unfalltheorie, vor allem weil Steinmüller aktuell in einen komplizierten, vielleicht sogar dubiosen Instrumententransfer verwickelt sei. Das Wort »Transfer« sollte selbst Schrottheimer aus den attraktiven Fußballenthüllungen kennen. Sie hatte noch geschickt Reizworte wie »Versicherungssumme«, »laufende Ermittlungen« und »Marktregulierung« eingeflochten, ohne zu wissen, wie sie diese am Ende in ihre Berichterstattung integrieren konnte. Als sie endlich aufgelegt hatte, hatte sie tatsächlich die Carte blanche ausgehandelt. Sie durfte recherchieren, was es mit dem Unglücksfall auf sich hatte, bis sie – natürlich vor allen anderen – eine wasserdichte Enthüllungsstory vorweisen konnte. Diese sollte sie liefern, bevor es jeder aus dem Polizeibericht wusste, attraktive Zwischenstandsmeldungen, wenn auch noch nicht veröffentlichungsreif, wären gern gesehen. Täglich!
»Du hast wirklich eine Enthüllungsstory angekündigt? Und du hast ›wir‹ gesagt? Sprichst du von dir immer im Pluralis Majestatis? Hast du hier eine Katze, die ich nicht gesehen habe? Oder meinst du damit ernsthaft mich?«
»Wen sonst?«
»Okay! Das nächste Mal würde ich gern gefragt werden. Du weißt doch gar nicht, ob ich Zeit habe.«
»Und ob, der nächste große Konzertblock des Gewandhausorchesters ist übernächstes Wochenende. Ihr fangt keinesfalls vor Montag in einer Woche mit den Proben an; und üben kannst du auch neben unseren Recherchen.« Anna war von einer fast kindlichen Begeisterung und Verwegenheit gepackt, die Habakuk zwangsläufig mitreißen musste.
Also sagte er: »Lass uns Nägel mit Köpfen machen.«
Was Anna auf jeden Fall heute – am Sonntag – noch tun konnte, war jener Anruf bei der Polizei, der sie offiziell mit ins Rennen um die Informationen brachte. Anschließend musste sie jenen kurzen Bericht schreiben, der morgen im »Anzeiger« verkünden würde, was ohnehin die ganze Stadt wusste, nämlich, dass am Samstagabend im In-and-Out ein Musiker von einem Scheinwerfer erschlagen worden war. Außerdem, dass sich der »Anzeiger« ins Zeug legte, um Licht in die Hintergründe des Geschehens zu bringen. – »Licht in die Hintergründe des Geschehens« … So konnte sie das in diesem Kontext nicht formulieren. Wortspiele waren bei so einer ernsten Angelegenheit bestimmt nicht jedermanns Sache. Vielleicht konnte sie mit Habakuks Hilfe rund um die technischen Ermittlungen schon etwas in Erfahrung bringen und in den Text einflechten.
Habakuks große Stunde schlug morgen. Er hatte den Termin mit seinem Versicherungsvertreter nicht abgesagt. Er wollte so tun, als gäbe es das Instrument noch und als wollte er es über Wert versichern.
»Lass uns das nachher kurz besprechen«, sagte Anna. »Ich muss mich beeilen, um den kurzen Bericht für die morgige Ausgabe noch rechtzeitig fertig zu bekommen. Nimm dir gern ein Sandwich oder was anderes aus dem Kühlschrank.« Sie deutete auf den Eingang zur Küche. »Obstschale steht auf der Arbeitsplatte. Kaffeemaschine musst du bloß anschalten. Ich mache mir einen Tee, wenn ich den Anruf erledigt habe.«
Habakuk stand ein wenig verwirrt in der Mitte des Raumes, tat aber dann wie geheißen. »Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Einen Pfirsich vielleicht.« Anna erinnerte sich, dass sie gestern Morgen in einem Anflug von Größenwahn völlig überteuerte Flachpfirsiche – wenigstens hatten sie ein Bio-Siegel – gekauft hatte, um die frühsommerliche Stimmung zu verstärken. Das war jetzt eine willkommene Erfrischung.
Bevor sie gleich bei der Polizei anrief, sollte sie sich kurz ins Redaktionssystem einloggen, um zu checken, was über die Nachrichtenagenturen und die Mailadresse der Redaktion hereingekommen war. Gut, dass das inzwischen von zu Hause aus ging. Vielleicht verfolgten andere bereits die gleiche Spur oder es gab neue Erkenntnisse oder ein Hintergrundfeature. Was im Wettlauf um Informationen nicht immer von Vorteil war.
Anna gab gerade ihr Passwort ein, als es laut krachte. Sie schreckte zusammen, musste sich im nächsten Moment aber ein Lachen verkneifen. Habakuk war es zwar in ihrer Küche gelungen, ein Tablett ausfindig zu machen und Obstschale und Kekse darauf zu stellen. Aber mit dem Tablett vor der Nase hatte er nicht ganz denselben Weg aus der Küche herausgenommen wie hinein und war über den Wäschekorb gestolpert. Dieser stand immer noch an der kleinen Wand zwischen der Treppe zur Terrasse und der Küchentür an strategisch ungünstiger Stelle. Glücklicherweise hatte Habakuk den Korb nur mit einem Bein erwischt, mit dem anderen hatte er sich auf dem Knie abgefangen und hielt heldenmutig das Tablett nach oben. In dieser mit Sicherheit äußerst unbequemen Stellung kauerte er auf dem Boden, und Anna eilte ihm zu Hilfe. Sie nahm ihm das Tablett ab, stellte es beiseite und entschuldigte sich für die Stolperfalle.
Читать дальше