»Es hat mich gefunden. Aber jetzt ist es futsch. Oder: Man will mich glauben machen, dass es futsch ist. Das ist es ja, was ich meine. Vor etwa zwei Monaten rief mich Thorsten Steinmüller an. Er hatte meine Nummer von einem Kollegen aus dem Gewandhausorchester. Und er fiel gleich mit der Tür ins Haus. Ohne ›Wie geht’s? Wie steht’s?‹, ohne Small Talk kam er gleich zur Sache. Das war wohl seine Art. Er wollte mir eines seiner aktuellen Instrumente, den vor etwa 20 Jahren geschaffenen Nachbau einer Stradivari von 1719 verkaufen. Steinmüller, der nicht in dem Ruf stand, verarmt zu sein, schien es mit dem Verkauf sehr eilig zu haben. Das machte mich zunächst stutzig. Ich dachte mir, dass möglicherweise mit dem Instrument etwas nicht stimmt. Dennoch ließ ich mich auf ein Treffen und ein Probespiel des Instruments ein – bereits am nächsten Tag. Diesem folgte ein weiteres Probespiel eine Woche später, weil ich positiv überrascht, aber noch nicht überzeugt war. Da haben wir dann über den Preis gesprochen, den ich nicht zahlen wollte und auch nicht konnte. Ich wollte mich nicht an eine Bratsche versklaven wie andere an ein Herrenhaus. Wir haben hin und her verhandelt, wobei ich von vornherein offengelegt habe, was für mich realistisch ist – immerhin der Preis eines richtig guten Mittelklassewagens.«
Er schien eine verdammt ehrliche Haut zu sein, dieser Brausewind. Steinmüller habe bis ins Letzte gefeilscht, schließlich sogar in 100-Euro-Schritten, was bei solchen Summen besonders lächerlich war. Habakuk sei das Ganze schließlich so unangenehm geworden, dass er das Instrument aufgeben wollte. Da habe ihm der Kollege mitgeteilt, es tue ihm leid, er habe einen anderen Käufer gefunden, der ihm den vollen Preis zahle. Aus Asien, mehr habe er nicht gesagt. Habakuk hatte die Sache in dem Moment abgeschlossen, und er war froh darüber gewesen, weil die obsessiv feilschenden Anrufe des Kollegen zeit- und energiezehrend waren.
Anna hing an Habakuks Lippen, und der fragte sich, wann er das letzte Mal das Bedürfnis gehabt hatte, sich jemandem in dieser Ausführlichkeit und Intensität mitzuteilen. Auf jeden Fall war die Sache mit der Bratsche vorläufig im Sande verlaufen, Habakuk hatte nichts mehr von Steinmüller gehört und war darüber hinaus von dem kostspieligen Investitionsplan geheilt.
Bis vor gut einer Woche abermals sein Telefon geklingelt und Steinmüller gefragt hatte, ob er noch interessiert sei. Habakuk hatte sich das neuerliche Angebot angehört. Steinmüller wollte ihm 100 Prozent beim Preis entgegenkommen, wenn der Deal auf der Stelle über die Bühne ging. Das sei der Moment gewesen, an dem bei Habakuk die Alarmglocken sehr laut geschrillt hatten. Diese Marktschreier-Attitüde war absolut unseriös und auch nicht üblich; eine historische Bratsche wurde ja nicht plötzlich schlecht, wenn sie es die letzten 300 Jahre nicht geworden war; das war bei einer Kopie nicht anders. Außerdem bekam kein normaler Orchestermusiker eine sehr, sehr ordentliche fünfstellige Summe von heute auf morgen abrufbar von seiner Bank – das hatte Steinmüller mit Sicherheit gewusst. Habakuk hatte deshalb auf einem hieb- und stichfesten Kaufvertrag bestanden.
Anna, die ihm bis hierhin mehr als gebannt gelauscht hatte, pflichtete ihm bei. So etwas sei absolut merkwürdig und man müsse sich da absichern.
Der Kaufvertrag war aufgesetzt worden, Finanzierung, Zahlung und Übergabe vereinbart. Ende der kommenden Woche sollte alles über die Bühne gegangen sein. Morgen hätte er noch einen Termin bei der Versicherung gehabt, denn die Versicherung des Gewandhausorchesters war weder an einem Zweitinstrument noch an einer Bratsche in diesem Wertsegment besonders interessiert. Doch auch Habakuks persönlicher Versicherungsvertreter war argwöhnisch und etwas überfordert und wollte sich mit der Zentrale beraten, weswegen der Termin erst morgen hätte stattfinden sollen.
Mit einem liebenswerten Sarkasmus fügte Habakuk hinzu: »Ich habe mich schon gefragt, ob ein Geiger, der ein Instrument für einen ordentlichen sechsstelligen Betrag versichern will, auch so schief angesehen wird wie ich in diesem weit kostengünstigeren Fall. Aber mein Versicherungsvertreter kann nun wieder ruhig schlafen, wenn ich morgen früh den Termin absage.«
Erst jetzt begriff Anna die Sache in ihrem ganzen Ausmaß: Die gestern zertrümmerte Bratsche wäre das zukünftige Instrument ihres Gegenübers gewesen. Mitleidig und entsetzt starrte sie Habakuk an.
»Hat er dir jemals gesagt, warum er das Instrument so dringend verkaufen wollte?«
»Kein Sterbenswort. Er hatte es eilig, also dachte ich mir, er braucht das Geld. Er hatte ja mehr als ein anderes anständiges Konzertinstrument.«
»Und warum hat er gestern ausgerechnet dieses gespielt?«
»Das hat er mir angekündigt, aber plausibel erschien mir seine Erklärung nicht! Es fällt mir schwer, in bestimmten Situationen an Zufälle zu glauben; und das hier ist so eine.«
Ein Satz, der durchaus von Anna stammen könnte, das gefiel ihr. Habakuk C. Brausewind hatte Anna Schneider argumentativ längst auf seine Seite gezogen.
Habakuk fuhr fort: »Ich weiß nicht, was passiert ist, oder was ich davon halten soll. Aber es fällt mir schwer, an einen Unglücksfall zu glauben. Vorgestern hat mich Steinmüller angerufen und mir erklärt, dass er das Instrument am Samstag im Konzert im In-and-Out noch einmal spielen müsse, des Klangbildes wegen und verschiedenen Leuten zuliebe. Die nannte er jedoch nicht namentlich. Es sei ihm aber wichtig – natürlich gegen Quittung –, gleich im Anschluss an das Konzert das Instrument vorfristig an mich zu übergeben. Er bat mich, da zu sein, eine Freikarte sei auf meinen Namen an der Abendkasse hinterlegt. Ich habe daraufhin bei einem befreundeten Anwalt angerufen, um zu ergründen, ob sich das auf den schon unterschriebenen Kaufvertrag auswirken könnte. Dieser hat verneint, aber eine Übergabequittung aufgesetzt, die am Ende nicht mehr benötigt wurde.«
»Hast du das der Polizei gesagt?«
»Du bist gut! Weder gehörte mir das Instrument bereits, noch weiß ich, ob man eindeutig nachweisen kann, dass es sich bei dem auf der In-and-Out-Bühne verteilten Kleinholz um genau diese Bratsche gehandelt hat. Jemand, der nicht vorher im Saal war, könnte vermutlich nicht einmal sagen, dass die Holzsplitter ein Musikinstrument waren. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass es sich um einen Anschlag auf das Instrument gehandelt hat.«
»Aber«, fuhr ihm Anna ins Wort, »ein solcher Anschlag wäre auch mindestens fahrlässige Tötung!«
Habakuk wiegte bedächtig den Kopf. »Das ist es doch, was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht. Wie kann man Hypothesen zu Instrumentenschwarzmarkt oder Versicherungsbetrug verfolgen oder das der Polizei gegenüber erwähnen, ohne dabei das Andenken eines Toten zu verunglimpfen, der damit möglicherweise gar nichts zu tun hatte? Das Hin und Her des Verkaufs sorgte unter Kollegen ohnehin für Aufsehen.«
»Man müsste herausbekommen, dass es kein Unfall war«, hörte sich Anna sagen.
»Davon ist Frille überzeugt!«
Anna war irritiert. Hatte sie etwas verpasst? »Wer ist Frille?«
Frille wurde ein gewisser Friedrich Lehmann von seinen Freunden und Kollegen genannt. Und Friedrich Lehmann war der technische Leiter vom In-and-Out, einer der beiden festangestellten Veranstaltungstechniker, der Einzige in Vollzeit. Woher Habakuk diesen Frille so gut kannte, dass er wusste, was der darüber dachte, konnte Anna nicht fragen.
Denn Habakuk erklärte bereits: »Frille hat noch gestern Abend darauf bestanden, dass das kein Unfall gewesen sein kann, dass keiner seiner Leute – es gibt eine Reihe freier Kollegen – so grob fahrlässig handeln würde. Vor allem können sich die Befestigungsschellen eines Moving Lights von Bero niemals einfach so lösen, niemals! Frille sagt, es gebe technisch und was die Sicherheit betrifft nichts Besseres. Die Spots besitzen nämlich eine Sekundärsicherung, einen Unfall hält er also für ausgeschlossen. Aber das In-and-Out mit seiner Politik der offenen Türen, wo jeder nach überall durchmarschieren und Dinge abschrauben und mitgehen lassen könne … Für Frille ist es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass mal etwas passiert. Aber gleich so etwas … Das hätte er nicht für möglich gehalten. Mit einem ordentlichen Sicherheitsdienst wie in anderen Clubs wäre das nicht passiert, sagt er. Er hofft, dass sich wenigstens jetzt etwas ändert.«
Читать дальше