Kramers erster Anruf hatte noch besorgt geklungen. Wie Anna es vermutet hatte, hatten die Lokalen den Polizeifunk ausgeschlachtet. Harald, gewiefter Lokalreporter, der die Nase bei der Nachrichtenbeschaffung gern nicht ganz ethisch einwandfrei vorn hatte, hatte bei Kramer angerufen, um zu erfahren, ob der »da jemanden drin« habe. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar gewesen, was »da drin« passiert war. Man hatte aber mitbekommen, dass ein Großaufgebot an Polizei, THW und Rettungswagen auf dem Weg zum In-and-Out war. Daraufhin hatte Andreas Kramer, durchaus besorgt um seine Mitarbeiterin, zum Hörer gegriffen. Beim vierten Anruf des Abends – es war inzwischen nach draußen gedrungen, dass man bei diesem Konzert nicht versucht hatte, die Kritikerin zu meucheln – war der Chef eher konsterniert gewesen. Man hätte wenigstens die Internetausgabe, die es auch am Sonntag gab, mit einem kleinen Bericht direkt vom Geschehen verzieren können. Dafür sei es nun zu spät. Anna hatte die drei Fragezeichen in seiner Stimme gehört, und weil sie nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte, verschob sie den Rückruf seit gestern Abend.
Gestern hätte sie noch sagen können, dass im In-and-Out kein Empfang … dass die Ordnungskräfte … Aber mittlerweile, zehn Stunden später, war das nicht mehr möglich. Sie konnte sich bestenfalls herausreden mit notwendigen Recherchen und einer einzigartigen Erkenntnis, die eben Zeit brauche. Und die noch nicht gefunden war, doch das würde sie für sich behalten.
Kurz und gut: Anna Schneider hatte ein Problem. Sie scrollte durchs Internet, fand aber nichts, was sie nicht selbst schon gewusst hätte. Die Veranstalter drückten tiefstes Bedauern aus, von den drei verbliebenen Musikern war keine Stellungnahme zu erhalten. Nichts Überraschendes also. Sie musste irgendetwas anderes finden. Auf jeden Fall verbot es sich, über die vorher stattgefundene Musikdarbietung zu schreiben, vor allem angesichts der streitbaren Qualität. Noch eine Tasse Klarer-Kopf-Tee? Das brachte wohl auch nichts, vermied aber das Kaninchen-vor-der Schlange-Gefühl, denn sie hatte dann etwas zu tun. Und danach würde sie Kramer anrufen – sicher. Also doch den Wasserkocher noch einmal füllen.
Anna war gerade auf dem Weg in die Küche, als der Summton der Haustürklingel signalisierte, dass unten jemand Einlass begehrte. Kam Kramer jetzt schon persönlich, um nachzuschauen, ob sie noch lebte, schoss es Anna durch den Kopf. Sie konnte sich nicht im Entferntesten erinnern, wann sie zum letzten Mal am Sonntagmittag unangekündigten Besuch erhalten hatte. Die meisten ihrer Freunde wussten, dass Anna Schneider gerade dann vor ihrem Computer brütete, und der Paketbote kam keinesfalls am Sonntag. Sollte sie sich tot stellen und Kramer weiterhin ausweichen? Angesichts der Tatsache, dass sie ihren Job behalten wollte und morgen ohnehin in die Redaktion gehen musste, war das nicht ratsam. Es hieß also, dem Tiger, der Kramer beim besten Willen nicht war, ins Auge zu sehen und zu öffnen.
»Hallo?«, flötete Anna zögerlicher als sonst in den Hörer der Sprechanlage.
Nicht weniger zögerlich tönte es zurück: »Hallo …«
Das war keinesfalls der wild entschlossene Kramer.
»Hallo, hier ist Heinz …«
Anna überlegte. Heinz?
»Heinz, Habakuk, der Mann mit dem Rotwein von gestern Abend. Ich wollte das Kleid zur Reinigung abholen …«
Teufel, auch das noch. Offenbar hatte Anna es fertiggebracht, einem wildfremden Menschen ihre private Visitenkarte zu geben – nur weil er Bratscher war, harmlos wirkte und Habakuk hieß. Nach allem, was zwischenzeitlich ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hatte sie es versäumt, im Saisonprogramm des Gewandhausorchesters nachzusehen, ob da tatsächlich ein Brausewind in der Bratschengruppe geführt wurde. Was blieb ihr anderes übrig, als ihn hereinzulassen? Jedoch – allein mit ihm nach der ersten Bekanntschaft? Trotzdem drückte sie auf den Türöffner, und Habakuk stieg in den fünften Stock, einen Fahrstuhl gab es nicht. Ein merkwürdiger Anfang für eine Bekanntschaft … Was, wenn dieser Habakuk ein gemeiner Wäschefetischist war und lediglich ihr Leinenkleid erbeuten wollte? Immerhin hatte er sie als die Musikkritikerin Anna Schneider erkannt.
In der Zwischenzeit war Habakuk angekommen, weit weniger schnaufend als die Mehrheit von Annas Besuchern. Die Entscheidung war gefallen. Anna ließ den unerwarteten Gast ein. Strahlend streckte er ihr eine große flaschenförmige Geschenktüte entgegen. Was für einen Wein dieser Typ wohl mitbringt?
»Rotwein wäre ein wenig provokant gewesen.« Habakuk strahlte. »Waschbär-Cola – auch kein schlechter Tropfen«, scherzte er weiter.
Anna überlegte, wann sie jemals ein abgefahreneres Gastgeschenk erhalten hatte. Vermutlich hatte sie diese Edel-Cola mit ihrer gestrigen Getränkebestellung selbst provoziert. »Ich hole Gläser…«, sagte sie. Wenn er schon einmal da war, konnte man auch ein Glas Cola mit ihm trinken. Vielleicht gelang es ja einem Bratscher, sie aus ihrer festgefahrenen Kramer-Steinmüller-Text-Gedankenschleife zu reißen.
Waschbär-Cola … Anna stand vor der nächsten Herausforderung. Welche Gläser benutzte man für eine Edel-Cola? Sie sollte sich, weiß der Himmel, schwerer wiegende Gedanken machen als die Frage danach, worin sie am besten ein Hipster-Gesöff kredenzen sollte. Immerhin musste sie in spätestens zwei Stunden einen Text liefern, den sie noch nicht einmal angefangen hatte. Bei einer »gewöhnlichen« Konzertkritik wäre das kein Problem, da hätte sie locker Zeit für drei Gläser Waschbär-Cola. Aber hier ging es um keine gewöhnliche Konzertkritik. Es gab einen Toten, noch dazu einen bizarr verstümmelten: Thorsten Steinmüller, Bratscher vom Kleistenes-Quartett.
Anstatt den Text endgültig in Angriff zu nehmen oder wenigstens Kramer anzurufen, holte Anna die schicken Longdrink-Gläser aus dem Schrank, die sie sich letztens sinnloserweise im Designer-Möbelhaus geleistet hatte, stellte Zitrone und Eiswürfelschale aufs Tablett und ging ins Wohn-Arbeitszimmer zurück, in dessen Mitte Habakuk C. Brausewind immer noch etwas unbeholfen stand. Das machte Anna nicht unbedingt mutiger. Sie winkte in Richtung eines der Plüschsessel – die Minicouch war mit diversen CDs und Büchern belegt, die sie nach und nach besprechen wollte – und stellte das Tablett umständlich auf dem Couchtisch ab. Habakuk öffnete sehr sorgsam die Cola-Flasche, was die Szene nicht weniger absurd erscheinen ließ. Anna setzte sich auf die Kante des anderen Plüschsessels und schaufelte sich viel zu viel Eis ins Longdrink-Glas. Habakuk tat es ihr allerdings gleich, dann goss er die Cola auf.
Bis hierhin verlief ihre Begegnung nahezu ohne Worte, dem Charakter des gestern gemeinsam Erlebten entsprechend. Habakuk ergriff als Erster das Wort und traf zielgenau einen wunden Punkt. »Haben Sie sich elegant aus der Affäre ziehen können?«
»Aus welcher Affäre?«
»Na, als normales Konzert werden Sie den gestrigen Abend kaum abhandeln wollen.«
Anna spürte, wie sich die gesamte, über den Vormittag angestaute Frustration in Aggression transformierte und beinahe dem arglos ihr in die Augen schauenden Habakuk wie ein gigantischer verbaler Vulkanausbruch ins Gesicht gesprudelt wäre. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, die rhetorische Lava hinunterzuwürgen und ihm lediglich ein spitzes »Ach was? Wie kommen Sie denn darauf?« zurückzuschmettern, das als zickig hätte interpretiert werden können.
Auch davon ließ sich ihr Gegenüber nicht beirren und deutete mit einer beschwichtigenden Geste sein Bedauern an, bevor er – dieser Habakuk war ganz schön hartnäckig, das beeindruckte Anna – den Faden wieder aufnahm. Er sei jedenfalls sehr gespannt, morgen ihre Sicht auf die Sache zu lesen.
Nun brach es mit entwaffnender Ehrlichkeit und leicht sarkastisch aus ihr heraus: »Wenn ich diese Sicht jemals finde, und sie zu diesem Zeitpunkt noch jemand drucken will.«
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