Das nächste Bild überraschte mich leider nicht. Ayla kniete neben dem Bett ihres Mannes. Sie hielt seine Hand und schluchzte. Bei dem Anblick ihres schmerzverzerrten Gesichts stiegen mir Tränen in die Augen.
Ich war froh, als das Bild verschwand. Auch das nächste heiterte mich keineswegs auf. Ayla kniete auf dem Boden und hielt sich die Wange, auf der man den Abdruck einer Hand erkennen konnte. Vor ihr stand die Sultanin. Sie hielt die Hand eines weinenden Jungen. Ich schätzte ihn auf circa fünf Jahre. Wachen zerrten die schreiende und tobende Ayla weg. Ich konnte noch sehen, wie sie sich losriss und um ihr Leben rannte, dann verschwand das Bild.
Schwer atmend blieb ich zurück und starrte vor mich hin. »Sie hat mir nichts gesagt.«
»Sie hat Angst. Überall lauern die Spione der Sultanin.«
Der Dschinn wechselte von seinen Weintrauben zu Pfirsichen.
Ich konnte sie verstehen. Zwar hatte ich noch keine Kinder, aber der Schmerz in Aylas Gesicht, als sie ihren Sohn zurücklassen musste, sprach für sich. Wenn mein Entschluss bisher nicht festgestanden hatte, so tat er es jetzt.
Ich wünschte mir meinen zweiten Wunsch und schneller, als ich blinzeln konnte, herrschte Dunkelheit um mich herum. Angenehme Kühle umfing mich. Weit weg hörte ich leise Stimmen und Schritte.
Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter. »Was ist hier los?« Ayla flüsterte instinktiv. »Wo sind wir?«
Meine Augen hatten sich an das Zwielicht gewöhnt. Wir hockten in einem langen Flur hinter einer riesigen Vase.
»Wir sind im Palast«, antwortete ich ein wenig kleinlaut.
»Was?« Aylas Stimme hallte zu laut von den Wänden wider. »Du verschwindest einfach für Stunden in dieser verdammten Teekanne und dann zauberst du uns ausgerechnet hierher?«
Vorsichtig spähte Ayla um den Blumenkübel. Es kam niemand. Alles blieb still.
»Eigentlich sollte uns der Dschinn direkt zu deinem Sohn bringen.«
»Bist du verrückt geworden? Woher weißt du überhaupt …« Sie schüttelte den Kopf. »Was hast du dir nur gewünscht?«
»Dass er uns in den Palast zaubert.« Ich hätte wohl etwas präziser sein sollen.
»Dann können wir ja froh sein, nicht direkt vor der Sultanin gelandet zu sein.«
Ayla war zu Recht wütend. Kamil hatte mich ja gewarnt. Aber nun waren wir hier, also konnten wir unsere Chance auch nutzen. Ich kroch hinter der Vase hervor und lief den Gang entlang.
»Hannah. Komm sofort zurück.«
Ich achtete nicht auf sie. Sie würde mir schon folgen.
Lange mussten wir nicht suchen. Nachdem wir ein paar vorbeikommenden Grüppchen ausgewichen waren, fanden wir eine Tür mit zwei Wachposten davor. Keine andere Tür im Palast wurde bewacht. Das musste sie sein.
Schnell zogen wir uns in den Gang zurück, aus dem wir kamen. Was sollten wir jetzt tun, um in das Kinderzimmer zu gelangen?
Ayla kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ich glaube ganz fest, dass du nicht ohne Grund hier bist. Deine Aufgabe kann nicht damit beendet sein, dass du die Höhle geöffnet hast.«
Bei diesen Worten sah sie mir fest in die Augen. Dann zog sie das Tuch über meine Haare, nahm meine Hand und führte mich um die Ecke.
Die Wachposten vor der Tür unterhielten sich leise. Erst als wir vor ihnen standen, sahen sie uns prüfend an.
»Was wollt ihr?«
»Die Sultanin schickt uns«, sagte Ayla. »Der Kleine hat Albträume und wir sollen mit ihm reden.«
Ich konnte den Männern ansehen, dass wir sie nicht überzeugten.
»Wenn wir wissen, was ihm fehlt, werden wir ihm einen Trank bereiten.« Die Blicke der Männer zuckten zu mir. Ich zog die Schriftrolle aus meinem Gürtel und hielt die Luft an. Hoffentlich lugte nirgends eine Strähne meines Haares unter dem Tuch hervor. Dann zuckte der eine mit den Schultern und trat zur Seite. Wir gingen hinein und die Tür schloss sich.
Zwei Gesichter wandten sich uns zu. Die des Jungen und einer älteren Frau. Die beiden saßen auf dem Boden und spielten mit Holztieren. Ich konnte hören, wie Ayla zitternd einatmete. Sie ließ sich zu dem Jungen auf den Boden sinken, streckte ihre Hand aus und streichelte ihm über die Wange. Tränen liefen ihr Gesicht hinunter.
»Mama?«
Ayla riss die Augen auf und schluchzte laut. Ich musste schlucken und auch die andere Frau brauchte einen Augenblick, um ihre Sprache wiederzufinden.
»Bist du es wirklich, Ayla?«
»Ja, Nabila. Wie kann es sein, dass Racheed sich an mich erinnert?«
»Nabila hat jeden Abend von dir erzählt«, sagte der Junge.
»Ich habe seine Erinnerung wachgehalten« bestätigte die Ältere. »Wie seid ihr bloß hier hereingekommen?«
Ayla sah mich an. »Warum sind wir hier, Hannah?«
»Die Sultanin hat ein großes Fest geplant. Alle Kalifen und Adlige dieses und der Nachbarländer sind im Palast. Ihr müsst diesen Männern und Frauen die Wahrheit sagen. Jeder wird sehen, dass du nicht lügst. Der Junge ist dein Ebenbild.«
Entgeistert sah Ayla mich an. »Das ist verrückt und viel zu gefährlich für Racheed.«
»Das ist die einzige Chance, die wir haben.«
»Ich sag Nein.« Aylas Stimme war hart wie Stein. »Wir müssen jetzt gehen«, wandte sie sich an ihren Sohn. »Aber ich verspreche dir, dass ich wiederkomme.«
Beide weinten, aber Ayla riss sich los und zerrte mich zur Tür.
Weit kamen wir nicht. Wir hatten die Wachen vor dem Kinderzimmer kaum hinter uns gelassen, da versperrten uns andere den Weg. Sie sprachen kein Wort, packten uns und stießen uns vorwärts.
»Es tut mir wirklich leid, Ayla.« Ich entschuldigte mich seit Stunden, aber sie schwieg.
Ayla hatte die Knie an die Brust gezogen und starrte zu dem vergitterten Fenster in drei Meter Höhe. Das Loch vermochte es kaum, das Licht des neuen Tages in unsere Zelle zu bringen. Wenigstens herrschte so eine angenehme Kühle in unserem Gefängnis.
Ich tigerte von einer Seite zur nächsten und überlegte, ob ich den Dschinn rufen und ihm meinen Wunsch sagen sollte. Aber was hatte ich schon für eine Wahl. Ich musste Ayla und dem kleinen Racheed helfen.
»Dschinni!«
Ayla zuckte zusammen.
»Dschinni, ich brauche deine Hilfe!«
»Deshalb musst du nicht so brüllen.«
Ich wirbelte herum. Der Flaschengeist trat aus dem Schatten der Mauer.
»Weißt du eigentlich, dass ich einen Namen habe?«
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Das habe ich mir gedacht. Du hast ja auch nie danach gefragt. Warum auch? Es ist ja nicht wichtig.«
Ich hob die Hand. »Ist ja schon gut. Du kannst mir deine gesamte Lebensgeschichte erzählen, aber erst einmal musst du uns auf das Fest der Sultanin zaubern.«
»Was?« Ayla sprang auf.
»Es geht nicht anders. Du und Racheed habt nicht länger Zeit, aufeinander zu warten. Er braucht seine Mutter.«
»Von mir aus«, mischte sich der Dschinn ein. »Aber dieser Wunsch ist wirklich verschwendet.«
»Wieso das?«
»Ihr werdet auch so auf das Fest gebracht.«
Fragend und leicht genervt sah ich ihn an.
»Ihr seid die Hauptattraktion. Also besser gesagt: Eure Hinrichtung wird es sein.«
»Was?« Diesmal waren Ayla und ich uns einig.
»Du musst uns hier weg wünschen, Hannah.«
Schwere Stiefelschritte erklangen auf dem Flur. Mein Blick schweifte zwischen der panischen Ayla und dem gelangweilten Dschinn hin und her.
»Bitte.«
»Noch nicht.«
Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und der Dschinn verschwand. Wachen brachten uns zum großen Fest.
Der riesige Saal erstrahlte durch Hunderte Kerzen, einem Meer aus Blumen und der prächtigen Kleidung der Anwesenden. Alle, die unser Kommen bemerkten, starrten uns an. Frauen zeigten mit dem Finger auf mich und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir eine andere Haarfarbe. Gespräche erstarben und die Musik setzte aus. Eine Frau trat aus der Masse hervor und stellte sich neben den Stuhl des jungen Sultans. Die falsche Mutter hob die Hand und das Getuschel hörte auf.
Читать дальше